Wächter des Mythos (German Edition)
ist. Daher wird er in der byzantinischen Ikonografie als sehr alter Mann dargestellt.«
»Wenn der Apostel Johannes nun wirklich der Sohn von Jesus war, wieso wird das dann überall verschwiegen?«
»Die Gründe liegen doch wohl auf der Hand: Wer ist dann Gottes Sohn?«
»Das hatte ich ganz vergessen. Durch Johannes wäre Gott ja auch zum Großvater geworden«, gab ihr Gabriel belustigt zur Antwort.
»Wenn Jesus wirklich behauptet hat, er sei ein Gottessohn, dann hat er uns alle damit gemeint, als Kinder Gottes. Dieser Mythos vom alleinigen Sohn Gottes beginnt erst nach seiner Kreuzigung. Maria Magdalena hat nach seinem Tod die Jünger wieder versammelt und mit dem Bericht von seiner Auferstehung erneut zusammengeführt. Ich denke, damit hatte sie Jesus zu einen neuen Gott, zum Sohn Gottes erklärt.«
»Wahrscheinlich hätte es ohne diese Auferstehungs-Geschichte auch keine neue Religion gegeben. Um den Auferstehungs-Mythos zu erhalten, musste dann alles andere verschwiegen werden«, stellte Gabriel nachdenklich fest.
»Daher will das Johannesevangelium nach eigenem Bekunden als literarisches Werk dem Glauben der Leser dienen und nicht einer nackten Wahrheit«, fügte Alina hinzu.
»Jedenfalls konnte Johannes seine Sonderstellung als ›Lieblingsjünger‹ nicht verschweigen«, setzte Gabriel seine Gedanken fort.
Alina schwieg und begann, Zwiebeln und Knoblauch in dünne Scheiben zu schneiden. Gabriel blickte sie herausfordernd an, als ihr die Tränen in die Augen traten. Sie seufzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Nun, im ersten Johannesbrief gibt es eine zum Text gehörende Passage über drei Zeugen: › … der Geist, das Wasser und das Blut, und diese drei sind eines‹. Allegorisch betrachtet könnten Jesus, Magdalena und Johannes gemeint sein.«
»Da wären wir ja wieder bei der Blutslinie.«
Alina lachte. »Oder bei der Trinitätslehre des zwanzigsten Jahrhunderts: Vater, Mutter und Kind . Doch heutzutage ist die außereheliche Empfängnis wohl nicht gerade das Wichtigste an einer Religion. Nur stellt sich dann die Frage, was hat das Christentum denn sonst zu bieten?«
»Du meinst die Frage nach dem Kern der Lehre, ohne diese Geschichten wie das ›Wandeln auf dem Wasser‹ und die ›Erweckung der Toten‹ … Gibt es denn überhaupt eine klar formulierte Lehre von Jesus, die so aus der Bibel zu entnehmen ist?«
»In diesem Flickwerk aus Täufersekte und Jesusworten ist es kaum möglich zu unterscheiden, was wem in den Mund gelegt worden ist.«
»Ich versteh nicht, was du mit ›Flickwerk‹ und ›Täufersekte‹ meinst?«
»Allein darüber kann man schon endlose Debatten führen«, stöhnte Alina. »Die Evangelisten legten Jesus eine mit der Lehre des Täufers nahezu identische in den Mund. Sicher gab es Überschneidungen, doch ihr zeitgleiches öffentliches Auftreten um das Jahr 28 schließt ein Lehrer-Schüler-Verhältnis eher aus.
Allein mit dem Brauch der Taufe hat das Christentum Gedankengut von Johannes dem Täufer vereinnahmt, über die Bibel will ich erst gar nicht sprechen. Der Täufer war eine historisch greifbare Figur mit vielen Anhängern im jüdischen Volk. Ob die Urchristen dies zu ihrem Nutzen machten und Jesus als den vom Täufer angekündigten Messias präsentierten, ist sicher eine Überlegung wert.«
»Kannst du mir ein Beispiel für das Gedankengut von Jesus nennen, das sich von dem des Täufers unterscheidet?«
»Sicher: Jesus stellt keine Gesetze oder Gebote auf, er appelliert nur an unsere Vernunft. Als seine Schüler Jesus zum Beispiel nach dem Fasten fragten, und wie sie beten und spenden sollten, was für Nahrung sie zu sich nehmen und welche sie meiden sollten, antwortete er: ›Sprecht keine Lügen und tut nicht, was ihr verabscheut.‹«
»In welchem Evangelium steht das geschrieben?«
»Es steht im Thomas-Evangelium, Logion 6.«
»Ist das Thomas-Evangelium nicht ein apokryphes Evangelium?«
»Na und, was willst du damit sagen? Gerade diese apokryphe Schrift enthält ursprünglicheres Gedankengut als die kanonischen Texte, die stark von der Lehre des Täufers geprägt sind. Der Täufer predigte Weltuntergang und Strafgericht, mit seiner Taufe bot er das ultimative Last-Minute-Ticket zur Erlösung. Doch dazu kam es nicht. Den Grund kennst du: Der Sohn Gottes bot sich selbst als Opfer an, sodass die Strafe Gottes den Menschen erlassen wurde.«
»Der Zorn Gottes verlangte also nach Menschenopfern?!«
»Das archaische Verständnis der
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