Wächter des Mythos (German Edition)
WÖRTER BILDEN.
DIE FROHE BOTSCHAFT WIRD SICH DIR ZEIGEN,
IN EINEM WILDEN STERNENREIGEN.
»Hast du eine Ahnung, was hier abgeht?« fragte Gabriel und fuhr sich nachdenklich mit der Hand über den kahlen Kopf.
»Nun ja, das Ganze ist in drei Strophen gegliedert, zu je drei Versen. In dem ersten Vers geht es wohl um dualistische Zusammenhänge in der Alchemie. In dem zweiten um einen Brunnen. Der dritte Vers ist auch mir rätselhaft, dennoch verstehe ich ihn so wie Felipes Aufforderung: nach dem Stein der Weisen zu suchen.«
»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Gabriel abwinkend, »nicht einmal den Dualismus in dem ersten Vers.«
»Das ist einfach, es handelt sich hierbei um die wichtigsten Substanzen der mittelalterlichen Alchemie: Mercurius und Sulfur.«
»Und was für Substanzen sind Mercurius und Sulfur , irgendetwas Exzessives?«
Alina lachte. »Aber nein, es geht hier nicht um Drogen, damit sind die Substanzen des Steins der Weisen gemeint. Eigentlich geht es hier darum, gegensätzlich wirkende Elemente miteinander zu verbinden. Wahrscheinlich glaubte man, durch die Kunst, Unvereinbares zu binden, den mystischen Stein der Weisen zu erzeugen. Mercurius und Sulfur oder Quecksilber und Schwefel waren nach alchemistischer Vorstellung die Essenz von allem, was ist. Später wurde diese Theorie von Paracelsus um ein drittes Prinzip, das Prinzip des Salzes, erweitert.«
»Also, so wie ich dich verstanden habe, waren für den mittelalterlichen Alchemisten Quecksilber, Schwefel und Salz die fundamentalen Elemente, die praktische und symbolische Bedeutungen hatten. Doch leider ist mir entgangenen«, fügte Gabriel mit gespielter Beiläufigkeit hinzu, »welche das waren?«
»Nun ja, das Ganze hat eine allegorische Bedeutung. Quecksilber ist lebhaft und flüssig, Schwefel hingegen feurig und brennbar. Schon für die alten Griechen stand das flüssige Element für die Materie und das brennbare für den Geist. Daher verkörperten diese beiden Elemente auch das weibliche und männliche Prinzip, oder den Mond und die Sonne. Nachdem das Salz dann als drittes Element hinzukam, änderte sich die Bedeutung. Salz ist fest und löslich, daher entspricht es in der Alchemie dem Prinzip der Körperlichkeit. Auf den Menschen bezogen entsprechen Salz, Schwefel und Quecksilber Körper, Geist und Seele. Man nennt dies auch die Dreifaltigkeit, also eine Ganzheit, die in sich dreimal gefaltet ist. Oder die Dreieinheit, die in der Alchemie auch für das höchste Wirkprinzip steht.«
»Oh, die Sache wird ja allmählich kompliziert. Was, meinst du, könnte dieser Brunnen in dem zweiten Vers bedeuten?«
»In Verbindung mit dem ersten Vers könnte es sich vielleicht um einen alchemistischen Mercurius-Brunnen handeln, einen Merkurbrunnen.«
»Und was soll das sein?«, fragte Gabriel stutzig.
»Ein Brunnen, in dem Quecksilber und Schwefel fließt, also, so etwas wie eine Art Lebensquelle.«
» Durch diesen Quell da sollst du schreiten. Sollte das etwa so eine Art Wegbeschreibung sein? Oder vielleicht eine versteckte Anweisung, um an den Stein der Weisen, an das mysteriöse Kelch-Objekt heranzukommen?«, überlegte Gabriel laut.
»Wer weiß«, meinte Alina nachdenklich, »vielleicht ist das des Rätsels Lösung. Doch um dies herauszufinden, müssen wir der Anweisung nicht nur gedanklich, sondern auch praktisch folgen.«
»Meinst du das im Ernst ?«, fragte er zynisch.
»Denk’ nach, Gabriel!«, fuhr Alina begeistert fort, »allegorisch betrachtet, dient der Lebensquell dem Zugang zu einem Mysterium, das sich im Salz der Erde verborgen hält.«
»Was meinst du?«, fragte Gabriel stirnrunzelnd.
»Ach, das war sinnbildlich gemeint«, sagte sie schmunzelnd. »Ebenso wie in der Bibel: ›Wer Ohren hat, möge hören! Wenn Salz fade wird, womit wird man würzen?‹ «
»Eine gute Frage, eine gute Antwort: Sojasauce ! In Thailand jedenfalls, denn dort steht so gut wie nie Salz auf dem Tisch.«
Alina lachte. »Es geht doch nicht um das Salz als Würze, sondern um sein würzendes Wirken. Salz beschreibt das Wirken in der Welt, wenn Salz fade wird, ist es nutzlos.
»Na schön, Salz ist also die Würze des Lebens, wer will schon ein fades Leben leben. Demnach ist der Lebensquell wohl ganz einfach als Wasser zu verstehen. Gibt es denn hier so etwas wie Wasser im Keller?«
Alina fuhr wie vom Blitz getroffen auf. Von Klarsicht und plötzlicher Gewissheit betäubt, dauerte es einige Sekunden, bis sie reagieren konnte.
»Ja, sicher! Der
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