Wächter des Mythos (German Edition)
Brunnen!«, rief sie ein wenig zu laut aus und fuhr sich dabei aufgeregt mit der Hand durchs Haar. »Ich hatte das ganz vergessen, es gibt im Keller einen Brunnen.«
»Einen Brunnen?«
»Ja, einen antiken Mercurius-Brunnen. Damals, als meine Mutter starb, hat sich mein Vater hier wochenlang zurückgezogen. Er hat sich die ganze Zeit nur um diesen halb verschütteten Brunnen gekümmert. Er hat ihn damals mit Felipes Hilfe, den er irgendwo auf dem Jakobsweg kennengelernt hatte, wieder freigelegt. Die beiden haben es jedenfalls wieder so hingekriegt, dass der Brunnen Wasser hat und damit funktionstüchtig wurde.«
»Dass alte Häuser einen Brunnen im Keller haben, ist hier in Frankreich wohl nicht gerade die Regel, oder?«
»Nein, doch ein Brunnen im Haus ist trotzdem nichts Besonderes«, sagte Alina abwinkend. »Dieses Haus lag ein wenig abseits der Zivilisation und wurde daher auch etwas anders konzipiert.«
»Alles scheint mir hier etwas anders konzipiert zu sein, jedenfalls habe ich zuvor noch nie ein derartiges Kellergewölbe gesehen.«
Alina war aufgesprungen und flink wie ein Wiesel zwischen den Regalreihen verschwunden. Gabriel musste sich beeilen, um ihr auf dem Weg durch das Bücher-Labyrinth zu folgen. Der Brunnen lag in einer geräumigen Nische, deren Eingang fast vollständig mit Bücherregalen zugestellt war. Aufgeregt blieb Alina vor dem Brunnenschacht stehen, der vor ihnen aus dem Boden ragte. Ein ziemlich eigenartiger Hebemechanismus diente dazu, das Wasser aus einer schachtartigen Röhre vom Grund des Brunnens heraufzuholen.
»Das ist aber ein massives Ding«, platzte es aus Gabriel heraus. »Und dieser Aufzug! Damit lässt sich ja einiges nach oben befördern.«
»Da hast du recht, so genau habe ich mir das noch nie angeschaut. Ich bin jetzt nicht einmal sicher, ob mein Vater das mit der Funktionsfähigkeit des Brunnens auch wirklich eigenhändig, nur mit Felipes Hilfe, hingekriegt hatte. Der ist ja riesig.«
»Zusammen mit dem dicken Mauerwerk hat die Brunnenröhre einen Durchmesser von rund zwei Metern«, schätzte Gabriel.
»Das Mauerwerk ist ja auch beinahe einen halben Meter dick, das lässt ihn auch größer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist«.
Gabriel bückte sich über den Brunnenrand. »Was meinst du, wie tief er ist? Von hier oben bis zum Wasserspiegel sind es auf jeden Fall mehr als drei Meter.«
»Ich habe keine Ahnung«, gab ihm Alina zur Antwort. »Mich interessiert hier nur die alchemistische Symbolik. Sieh mal nach oben.«
» Oh! Da ist ja das Symbol für Merkur«, staunte Gabriel. Ein großer sechseckiger Stern, der das Himmelsgewölbe mit Sonne, Mond und vier weiteren kleineren Sternen symbolisierte, war direkt über dem Brunnen in das Gestein gemeißelt. Das Symbol für den Planeten Merkur war innerhalb des großen Sterns deutlich zu erkennen.
»Eine Weile lang sprach mein Vater dauernd von der Symbolik des Merkurbrunnens, der einst alchemistischen Zwecken diente. Wenn du genau hinschaust, findest du überall die Lehre der Alchemisten in ihrer Symbolsprache. Alchemie war ja auch ein weiteres Steckenpferd meines Vaters. Falls er das Haus wirklich selbst gekauft hat, dann sicher wegen des Kellergewölbes und dieses Brunnens hier.«
»Also hat das ja alles eine tiefe Bedeutung! Die sieben Himmelskörper repräsentieren doch die antike Weltanschauung?«
»Richtig, sie symbolisieren die sieben Planeten: Mars, Venus, Saturn, Jupiter, Merkur, Mond und Sonne. Und durch die Planeten werden auch die sieben Metalle: Eisen, Kupfer, Blei, Zinn, Quecksilber, Silber sowie Gold versinnbildlicht. Ich bin zwar keine Expertin, doch durch meinen Vater kenne ich die Zusammenhänge. Die vier kleineren Sterne und ihre Anordnung symbolisieren auch die Elemente oder Himmelsrichtungen.«
»Auf dem Brunnen gibt es an drei Stellen eine Inschrift . Was hat sie zu bedeuten?«
»Die genaue Bedeutung kenne ich nicht, vielleicht ist es im Rosarium Philosophorum nachzulesen, das sich hier irgendwo zwischen den Büchern befindet. Doch soviel ich weiß, geht es dabei um die dreifache Natur des Brunnens als Lebensquell, bestehend aus mineralischen, vegetarischen und tierischen Substanzen. Doch diese können auch als materielle, geistige, das heißt lebende, und als seelische, also beseelte Substanzen interpretiert werden.«
»Und was ist das Rosarium Philosophorum ?«
»Es ist ein alchemistisches Werk aus dem 16. Jahrhundert, von dem mein Vater ein originales Exemplar besitzt. C. G. Jung,
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