Wächterin der Träume
Güte, Doc. Du siehst ja furchtbar aus!«
Ich kicherte – mehr vor Erleichterung als wirklich belustigt. »So fühle ich mich auch.« Geistig vollkommen erschöpft ließ ich mich gegen ihn sinken und genoss mit geschlossenen Augen die Wärme seines Körpers. »Das war mit das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe.«
An seiner leichten Bewegung spürte ich, dass er auf mich hinunterblickte. »Du hast es gesehen?«
Sein Ton war schroff, doch ich wusste, dass er nicht böse mit mir war. Er war wütend über das, was ich mit angesehen hatte.
»Ich habe es gefühlt«, berichtigte ich ihn und blickte in seine glänzenden pechschwarzen Augen. »Ich habe ihre Emotionen in mich aufgenommen.«
Da nahm er mich so fest in die Arme, dass ich kaum noch Luft bekam. »Du jagst mir eine Riesenangst ein.«
Während ich seine Umarmung erwiderte, unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen, die hinter meinen Augen brannten. Ich jagte mir manchmal selbst Angst ein, aber ich wusste, dass Noah es indirekt als Kompliment gemeint hatte. »Ich hoffe, die Polizei fasst ihn schnell«, hörte ich mich selbst sagen, obwohl ich gar keine Lust zum Reden hatte. Langsam wurde ich wieder ich selbst, doch die Angst war noch immer da – wie ein schlechter Geschmack im Mund oder ein halb vergessener Alptraum.
»Nur fünf Minuten allein mit diesem Dreckskerl, das ist alles, was ich mir wünsche«, murmelte Noah. In seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel.
Noah beherrschte Aikido, und obwohl diese Kampfkunst der Selbstverteidigung diente, hatte ich keinen Zweifel daran, was er in den fünf Minuten machen würde.
»Würdest du ihn tatsächlich umbringen?«, fragte ich, unschlüssig, ob ich es überhaupt wissen wollte.
Er zuckte mit den Schultern. »Am liebsten schon.«
Jetzt hätte ich besser den Mund gehalten, aber ich musste es einfach fragen: »Wegen dem, was er Amanda angetan hat, oder aus Prinzip?«
Er runzelte die Stirn. »Bist du schon wieder eifersüchtig?«
War ich jetzt sauer auf mich selbst, weil ich am liebsten ja gesagt hätte, oder auf ihn, weil er nicht den großen Zusammenhang sah? Ich wusste es nicht genau. »Ein bisschen, aber wichtiger ist für mich deine Äußerung, dass du jemanden umbringen könntest.«
Er stieß ein freudloses Lachen aus. »So etwas hätte ich besser nicht in deiner Gegenwart gesagt. Du wirst meine Worte ja doch nur auf die Goldwaage legen.«
»Genau«, antwortete ich aufrichtig. »Und du würdest dir eine Menge Nerverei ersparen, wenn du es selbst tätest.«
Noah seufzte, musste aber wider Willen grinsen. »Du bist unmöglich.«
»Und furchterregend, vergiss das nicht«, konterte ich.
Diesmal klang sein Lachen schon echter. »Stimmt. Also, ich würde den Kerl gern umbringen für das, was er Amanda angetan hat, und weil er Menschen angreift, die kleiner und schwächer sind als er. Ob ich ihn wirklich töten könnte? Ja, ich glaube schon.«
Ich war froh über seine Aufrichtigkeit. »Und deswegen hoffe ich, du wirst nie auch nur fünf Minuten allein mit ihm sein.«
»Also gut, Miss Moralapostel, was würdest du denn mit ihm machen, wenn du könntest?«
Ich zögerte keine Sekunde. »Ich würde dafür sorgen, dass er jede Nacht davon träumt, vergewaltigt zu werden. So lange, bis er bereut und um Gnade fleht.«
Noah blickte so selbstzufrieden drein, dass ich ihm am liebsten eins auf die Nase gegeben – oder ihn flachgelegt hätte. »
Ich
würde ihn bloß umbringen.
Du
würdest ihn leiden lassen. Vielleicht solltest du mal deine eigenen Gefühle analysieren, Doc.«
Ich versetzte ihm einen Rippenstoß. »Vielleicht sollte ich dich mal träumen lassen, wie gefährlich es ist, mit mir zu streiten.« Das war nur halb scherzhaft gemeint. Ich hatte mich nicht mehr heftig in die Träume anderer Leute eingemischt, seit ich es vor dreizehn Jahren Jackey Jenkins heimgezahlt hatte, dass sie ständig auf mir herumhackte. Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als eine schikanierte Fünfzehnjährige.
Er zog mich an sich. »Willst du mich betrafen, Dr. Riley?« Seine Augen funkelten sinnlich. Und verführerisch.
Ich schob ihn weg, doch der Effekt war dahin, weil ich lachen musste. »Verdient hättest du es.«
Noah blickte hinunter aufs Bett, bevor er mich erneut ansah. »Du brauchst nicht eifersüchtig auf Amanda zu sein. Ich bin genau an dem Ort, an dem ich am liebsten sein will.«
Ich musste schlucken, weil mir ein Kloß in der Kehle saß. Dann nickte ich kurz und sagte: »Es ist schwer, nicht neidisch
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