Wächterin der Träume
Noah würde ich vielleicht nicht noch einmal ins Traumreich mitnehmen, aber ich hatte es nur aus Angst um ihn getan, und ich wollte mich nicht dafür entschuldigen müssen, dass ich versucht hatte, ihm das Leben zu retten – auch wenn er in letzter Zeit fast seine gesamten freien Stunden bei Amanda verbrachte, als wäre er dort festgenagelt.
Ich will nicht verbittert sein. Ich will nicht kleinlich sein.
Ich war also nicht besonders überrascht, als ich das wohlbekannte Summen im Hirn verspürte – mein Vater rief mich zu sich. Nur gut, dass es Freitagnachmittag war und ich keine anderen Termine mehr hatte.
Ich streckte meinen Kopf ins Wartezimmer. »Hey, Bonnie, wenn Anrufe für mich kommen, notier sie bitte.«
Bonnie salutierte, während sie nach dem klingelnden Telefon griff. »Aye, aye, Käpt’n.«
Prustend vor Lachen schloss ich die Tür. Was hätte ich nur ohne sie getan?
Ich schnappte mir meine Handtasche und ging ins Bad – den besten Platz, um garantiert ungestört zu sein. Damit ich mir eventuelle Peinlichkeiten ersparte, vergewisserte ich mich, dass der Toilettendeckel geschlossen war, bevor ich mich hinsetzte. Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Statt eine Pforte zu öffnen, durch die ich als Ganzes hindurchgehen konnte, holte ich meine Puderdose aus der Tasche und klappte sie auf. Die Grundierung von
Benefit Some Kind a Gorgeous
hat einen Riesenspiegel, und den wollte ich als meinen persönlichen Zugang zum Traumreich benutzen.
Eine Silberschale voll Wasser wäre wahrscheinlich besser geeignet gewesen, aber die Wahrsage-Utensilien waren mir gerade ausgegangen. Kicher. Ich konzentrierte mich also auf die glatte Fläche, in der sich mein Gesicht spiegelte, und auf das, was dahinterlag. Wenn man es recht betrachtet, ist das Reich der Träume eine Welt hinter der unseren, eine Welt der Spiegelungen und Schatten. Was ich im Spiegel sah, war nicht wirklich ich, sondern ein Ich aus Licht und Schatten – so, wie ich mich selbst sah.
Im Grunde ist alles nur eine Illusion, und mein Vater ist ihr König. Also war das mit dem Spiegel nur logisch, und ich konnte mich erinnern, dass meine Mutter einen ähnlichen Trick angewendet hatte, bevor sie ihre Dornröschennummer abzog.
Die Spiegeloberfläche schien sich plötzlich zu kräuseln und zu wellen, wie das geschmolzene Zeug, aus dem der fiese Terminator im zweiten Film bestand. Hübsch. Bunte Farben huschten über die Fläche, bildeten Kreise und Wirbel, bevor sie schließlich feste Gestalt annahmen. Die Gestalt meines Vaters.
»Schau an, schau an, da weiß jemand noch, wie man zu Hause anruft!«, sagte er mit einem stolzen Grinsen.
Ich grinste ebenfalls. »Das ist wie mit dem Fahrradfahren«, gab ich zurück. Wobei ich es damit nicht so hatte. Ich fand es einfach gefährlich, mich als Grobmotorikerin, die ich bin, auf zwei mickrige kleine Räder und schwache Bremsen zu verlassen. »Was gibt’s denn?«, wollte ich wissen.
»Ich überbringe eine Einladung.«
Meine Augenbrauen gingen in die Höhe. »Das klingt ja wie bei Jane Austen.«
Er lachte leise. »Ach ja, Jane. Interessante Träume hatte die.«
Da ich meine gute Meinung von Jane nicht verlieren wollte, fragte ich nicht weiter nach. »Eine Einladung wozu?«
»Zu einem Treffen bei Hadria. Sobald es dir irgend genehm ist.«
Das war eine höfliche Umschreibung für: »Schwing deinen Hintern hierher, aber ein bisschen dalli«. Was sollte ich davon halten? Die Priesterin hatte große Macht und seltsame Augen, aber eine Gefahr schien nicht von ihr auszugehen. »Wird sie vor dem Rat sprechen?«
Morpheus nickte, und als spürte er meine Unentschlossenheit, fügte er hinzu: »Hadria ist hoch angesehen, Dawn. Der Rat wird sich ihre Worte zu Herzen nehmen.«
Ich starrte ihn einen Augenblick lang an. »Du hast sie gebeten, sich mit mir zu treffen, nicht wahr?«
»Ja.«
Meine Miene verfinsterte sich. »Steht es so schlimm, dass du deine alten Freundinnen zu Hilfe rufen musst?«
Er lachte – was mich aber nicht sonderlich tröstete. »Hadria ist tatsächlich eine liebe alte Freundin, und ich schätze sie sehr. Aber sie würde nicht für mich lügen, wenn du das denkst. Ihre Aussage vor dem Rat wird neutral sein und sich nur darauf stützen, welchen Eindruck sie von dir hat.«
Obwohl mein Vater einen lockeren Ton anschlug, wurde mir bei seinen Worten kalt. »Wenn sie mich also nicht leiden kann, bin ich geliefert.«
»Wenn sie wirklich der Meinung ist, dass von dir eine Bedrohung ausgeht, dann
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