Wächterin der Träume
er lebt doch mit deiner Mutter zusammen! Verstößt er damit nicht auch gegen das Gesetz?«
»Nein, sie ist als Träumende dort. Es mag unmoralisch von ihm gewesen sein, sich in eine Sterbliche zu verlieben, aber verboten ist es nicht.«
Noah runzelte die Stirn. »Bei Antwoine und seinem Sukkubus war es doch auch gesetzeswidrig, oder?«
Er hatte recht. Antwoine war für mich wie ein Lehrer und, abgesehen von Noah, der einzige Mensch in New York, der wusste, dass ich ein Nachtmahr war. Vor einigen Jahren hatte sich Antwoine in einen Sukkubus namens Madrene verliebt, doch mein Vater hatte ihnen den Umgang miteinander verboten.
Warum durften hingegen ein Nachtmahr und ein Sterblicher zusammen sein?
»Vielleicht könnte mein Vater sogar etwas unternehmen«, räumte ich ein. »Aber in letzter Zeit hat er genug Sorgen, weil sich seine Untertanen gegen ihn verschwören und meine Geschwister versuchen wollen, meine Mutter aufzuwecken.«
»Du meinst, er soll dich leiden lassen, nur um seine eigene Haut zu retten?«
Ich seufzte. »Er muss tun, was das Beste für sein Königreich und seine Position als König ist. Er ist der Einzige, der die Macht hat, mich auszulöschen.« Bei dem Gedanken musste ich schlucken. »Wenn er eine Möglichkeit sieht, es zu verhindern, wird er es tun.«
Noah beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. »Ich finde es schrecklich, dass ich dir nicht helfen kann. Dabei habe ich dich doch da reingeritten.«
»Ich habe mich selbst reingeritten«, sagte ich bestimmt. »Mir ist nur wichtig zu wissen, dass du für mich da bist.«
Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Und wieder einmal willst du alles allein meistern …«
»Vertrau mir. Ich würde es nicht tun, wenn ich es nicht müsste. Schließlich lasse auch ich mich nur höchst ungern vor das Kriegsgericht stellen.«
»Du hast doch diese Hadria auf deiner Seite, oder?«
Ich nickte. »Ich habe zumindest gespürt, dass eine Menge Macht von ihr ausging. Vielleicht hat sie ja ein Wörtchen mitzureden. Die Oberste Wächterin wäre sicher traurig, wenn sie mich auslöschen ließe, bevor ich die Welt retten kann.«
Endlich hatte ich Noah zum Lächeln gebracht. Er streckte mir eine Hand hin. »Lass uns schlafen gehen.«
Ich gähnte. »Klingt gut. Außerdem will ich Amanda heute noch in ihren Träumen besuchen.«
»Ach ja?« Er klang überrascht. »Hast du denn nicht schon genug durchgemacht?«
Eng umschlungen gingen wir durchs Wohnzimmer zu der Treppe, die zum Loft hinaufführte. »Ich habe ihr ein Versprechen gegeben. Das werde ich halten.«
»Glaubst du, es könnte deine Anklage positiv beeinflussen, wenn du ihr hilfst?«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Warum eigentlich nicht? »Mag sein. Schaden tut es bestimmt nicht.«
Aber bei meinem Glück wahrscheinlich schon.
Ich hatte nicht vor, lange in Amandas Träumen zu verweilen. Nicht nur, weil es noch etwas anderes zu tun gab, sondern weil ich wollte, dass sie sich eigenständig heilte, Kraft und Selbstvertrauen wiedererlangte und so viel wie möglich von dem zurückgewann, was der Vergewaltiger ihr genommen hatte.
Noah bestand darauf, wach zu bleiben, während ich mich ins Traumreich begab. Ich war mir nicht ganz sicher, wem zuliebe er das tat, aber ich redete mir ein, es sei für Amanda und mich.
Diesmal öffnete ich keine Pforte, dazu war ich viel zu müde. Außerdem hätte ich damit nur die Aufmerksamkeit meines Vaters und die der übrigen Wesen des Traumreiches erregt. Daher betrat ich die Welt der Träume wie jeder andere auch – im Schlaf.
Während Noah neben mir im Bett lag und las, streckte ich mich aus, und summte zum Einschlafen im Stillen ein Schlaflied, das mir meine Mutter immer vorgesungen hatte. So konnte ich mich konzentrieren und ohne große Mühe in die andere Welt hinübergleiten.
Allmählich wurde es dunkler, die Verbindung zur Welt der Sterblichen fiel von mir ab, und ich durchdrang den Nebel. Dieses Mal schlugen weder Zähne noch Klauen nach mir. Als der Nebel sich lichtete, fand ich mich in einer Gegend wieder, in der die meisten Häuser keinen Fahrstuhl besaßen. Es musste schon spät sein, denn es war ziemlich ruhig und das Licht in fast allen Gebäuden erloschen.
Ich legte den Kopf in den Nacken, ließ den Schein der Straßenlaterne auf mein Gesicht fallen und genoss das Gefühl, vollkommen allein in dieser Stadt zu sein. Ich konnte verstehen, warum sich Amanda hier nachts sicher gefühlt hatte. Mir wurde auch klar, warum sich der
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