Wächterin der Träume
anhaben. Ich schob ihre Empfindungen beiseite und konzentrierte mich auf das Geschehen. Nicht, um den Voyeur zu spielen oder die Beweggründe dieses verdammten Soziopathen zu analysieren, sondern weil ich Amanda helfen wollte.
»Präge dir sein Gesicht ein«, sagte ich zu ihr. »Damit du der Polizei beschreiben kannst, wie er aussieht. Und wenn sie ihn dann haben, sorgst du dafür, dass er hinter Gitter kommt. Du bist stärker als er.« Diese Worte hatte ich mir vorher zurechtgelegt, weil ich sichergehen wollte, dass ich ihr das Richtige suggerierte. Es war wichtig, dass sie den Vergewaltiger identifizieren konnte, doch vor allem sollte sie wissen, dass das Leben für sie weiterging.
Und jetzt war es an der Zeit, diesem Horror ein Ende zu machen. Ich wollte das hier nicht länger mit ansehen – und Amanda sollte auch nicht mehr leiden als unbedingt nötig. Für dieses eine Mal konnte ich ihr eine kleine Atempause verschaffen.
Ich atmete tief durch und sammelte alle Kraft, die ich in dieser Welt besaß. Wie ein Schwall warmes Wasser schwappte sie über mich und wusch den schmierigen Dreck der Vergewaltigung ab. Innerlich fühlte ich mich, als wäre ich enorm gewachsen und hätte an Kraft und Weisheit gewonnen.
»Du bist in der City Bakery«, sagte ich und machte mir damit eine von Amandas Erinnerungen zunutze, die gerade auftauchte. »Du trinkst eine heiße Schokolade mit Noah.« Normalerweise hätte ich nur ungern einen der glücklicheren Augenblicke zwischen meinem Freund und seiner Exfrau miterlebt, aber angesichts dessen, was ich soeben erlebt hatte, waren meine eigenen Wünsche wirklich gleichgültig. Ich konnte es ertragen.
»Denk daran, was für ein schöner Tag es ist.« Ich zwang ihrem Unterbewusstsein diesen Gedanken auf, und an die Stelle des finsteren Gässchens trat eine helle, nach Schokolade duftende Bäckerei. »Es ist kalt draußen, und die Schokolade schmeckt köstlich.«
Im Handumdrehen war Amanda wieder unversehrt. Mit offenem blondem Haar, in Jeans und einem blauen Pullover saß sie auf einem Stuhl und hatte einen großen Becher in der Hand. Und sie lächelte Noah an, als habe er ihr den Mond vom Himmel geholt. Er betrachtete sie seinerseits, als würde er alles für sie tun.
Ich hatte dort nichts mehr zu suchen. Ich wollte weder ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich die beiden beobachtete, noch eifersüchtig auf das sein, was ich sah.
»Für den Rest der Nacht wirst du nur glückliche Träume haben«, sagte ich zu Amanda und berührte leicht ihre Schulter, bevor ich mich von dem verliebten Pärchen abwandte. »Schlaf gut, Amanda.«
Dann ging ich. Ich trat wahrhaftig aus dem Laden auf den Bürgersteig und machte einige Schritte, bevor mir wieder einfiel, dass ich mich in einem Traum befand. Amandas Traum. Ich musste unbedingt hier raus.
Mein Gott, war das alles kompliziert.
Ich geriet in Panik. Amandas Angst und Schmerz – und ihre Wut – waren zu viel für mich. Mir war, als sei ich ein Kaninchen, das vor einer Wildkatze flüchtet. Während ich die Straße entlangrannte, an den namenlosen Menschen und unzähligen Autos in Amandas Unterbewusstsein vorüber, flehte ich um einen Ausgang.
»Geh auf«, bettelte ich, schwitzend und atemlos.
»Geh auf!«
Vor mir bekam der Gehweg einen Sprung, zersplitterte wie die Schale eines hartgekochten Eis. Ja! Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf den Sprung und rannte noch schneller. Meine Lungen waren kurz davor zu bersten.
Noch ein Stoß, und der Sprung wurde zu einem Riss, dann zu einem Spalt, der den Beton aufbrechen ließ wie nichts. Das Traumreich mochte ja stets unbeständig sein, aber das Pflaster hier war so real wie die echten Straßen von Manhattan. Ich war es, die den Gehweg zerriss wie ein Blatt Papier. Meine Kraft.
Falls ich darüber Stolz empfand, so war es gleich wieder damit vorbei, weil sich der Boden unter mir auftat und mich verschlang. Ich fiel – und schrie dabei wie eine Verrückte.
Und dann saß ich plötzlich mit einem Ruck aufrecht im Bett und schnappte nach Luft.
Im nächsten Augenblick war Noah neben mir und umfasste meine Schultern mit seinen starken, warmen Händen. »Dawn, ist alles in Ordnung?«
Ich keuchte wie nach einem Marathon, nickte aber trotzdem. Mir ging’s gut. Jetzt, da ich wach und nicht mehr in Amandas Kopf war, ging es mir mehr als gut. Ich fühlte mich einfach phan-tas-tisch.
Noah beugte sich über mich, die Brauen über seinen unergründlichen Augen zusammengezogen. »Meine
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