Wächterin der Träume
auf eure frühere Beziehung zu sein.«
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte, tintenschwarze Haar und blickte mich ungläubig an. »Ich sollte dir erzählen, warum Amanda und ich uns scheiden ließen.«
»Ich dachte, es war, weil sie eine Affäre hatte.«
»Ja, aber es steckte noch mehr dahinter.«
Ich bemerkte die Unsicherheit in seinen Augen – oder waren es Schuldgefühle? »Wie meinst du das?«
Noah senkte den Blick auf seine Hände. »Amanda und ich ließen uns scheiden, weil ich unschön reagiert habe, als ich von ihrem Seitensprung erfuhr. Ich habe ihr weh getan.«
»Hast du sie geschlagen?«, fragte ich entsetzt.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich wollte es.« Sein Lachen klang schroff. »Ich hatte schon die Hand erhoben … aber dann tat ich es doch nicht. Ich hatte vor zu gehen, aber sie stellte sich mir weinend in den Weg und flehte mich an, ihr zu verzeihen.«
Vor lauter Erleichterung darüber, dass er sie nicht geschlagen hatte, brauchte ich ein paar Sekunden, bis ich meine Stimme wiederfand. »Und womit hast du ihr dann weh getan?«
Noah schwieg für einen Augenblick, als überlegte er, ob er es mir erzählen sollte. »Sie versuchte, mich zurückzuhalten. Ich stieß sie weg, und sie verletzte sich am Bein, weil sie gegen den Couchtisch taumelte. Ich sagte ihr, dass ich die Scheidung wollte, dann ging ich.« Als sich unsere Blicke trafen, sprach das schlechte Gewissen aus seinen tiefgründigen dunklen Augen. »Ich habe sie nicht verlassen, weil sie jemand anderen gevögelt hat, sondern weil ich sie einen Augenblick lang hatte schlagen wollen.«
Nach einem kurzen Stirnrunzeln blickte ich ihn freundlich an und nahm seine Hand. »Noah, ich glaube, die allermeisten Leute hätten in dieser Situation das Gleiche empfunden wie du.« Das letzte Mal, als mich ein Typ betrog, hätte ich ihm am liebsten so fest in die Eier getreten, dass er eine ganze Suchmannschaft gebraucht hätte, um sie wiederzufinden. Und Noah hatte trotz der Erfahrungen in seiner Kindheit bewiesen, dass er nicht wie sein Vater war, indem er Amanda nicht schlug.
Er entzog mir seine Hand. »Tu nicht so, als wäre es okay, Doc. Das ist es nämlich nicht.«
»Nein, das ist es wirklich nicht«, stimmte ich ihm zu. »Ihr habt euch gegenseitig verletzt, aber jetzt seid ihr so gut darüber hinweggekommen, dass ihr Freunde sein könnt. Du warst für sie da, als sie dich am dringendsten brauchte, und wenn das dein Gewissen nicht erleichtert, muss ich annehmen, dass es noch etwas gibt, was du mir verschweigst.«
Er schaute mich böse an, aber ich nahm das nicht persönlich. »Ich hasse es, wenn du so verdammt ruhig und professionell bist«, knurrte er.
Ein kleiner zorniger Funke flackerte in mir auf, aber ich erstickte ihn sofort. Noah wollte mich nur in Rage bringen, denn damit konnte er umgehen. Was ihn ärgerte, war Geduld. »Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte ich lächelnd.
Er lachte noch immer, als ich ihn neben mich aufs Bett zog. Lächelnd und eng umschlungen schliefen wir ein.
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Kapitel sechs
I n den folgenden Tagen verlief mein Leben recht ruhig. Die Oberste Wächterin ließ mich in Frieden, doch während einer Übung im Gestaltwandeln – etwas, das ich zuvor bei Karatos gesehen, aber noch nie selbst probiert hatte – erfuhr ich von Verek, dass sie eine Menge Fragen über Karatos stellte.
Das machte mich so wütend, dass ich mich in die Oberste Wächterin verwandelte, worauf Verek ganz aus dem Häuschen geriet. Offensichtlich war es normal, die Gestalt Sterblicher anzunehmen, nicht aber diejenige anderer Traumwesen. Eine weitere Verrücktheit, die auf das Konto meiner besonderen Persönlichkeit ging. Ich hatte mich darauf konzentriert, jemand anderer zu »werden«, und den Rest hatte dann meine Wut besorgt.
Andererseits konnte diese Gestaltwandelei sehr nützlich sein, wenn ich mich in den Träumen eines anderen aufhielt. Denn dann vermochte ich mich in jemanden zu verwandeln, den der Träumende kannte. Man stelle sich nur vor, wie gut ich einem Klienten helfen könnte, alte Wunden zu heilen, wenn ich ihm jemanden lieferte, mit dem er tatsächlich eine Auseinandersetzung gehabt hatte. Aber im Moment war das alles noch sehr neu für mich.
Verek berichtete mir auch, dass sich die Oberste Wächterin nach Noah erkundigte, was mich wurmte, obgleich ich damit gerechnet hatte. Sollte sie doch Fragen stellen, so viel sie wollte! Ich hatte nichts getan, was ich nicht noch einmal tun würde.
Na ja,
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