Wächterin der Träume
Angreifer ausgerechnet dieses Stadtviertel ausgesucht hatte. Man vermochte sich nicht vorzustellen, dass hier etwas Schlimmes geschah.
Plötzlich hörte ich das leise Geräusch von Schritten auf dem Pflaster. Ich senkte den Kopf und öffnete die Augen. Meine Augen brauchten sich nicht an die Dunkelheit zu gewöhnen – ich konnte alles genau erkennen. Im träumenden Unterbewusstsein eines Menschen war ich allmächtig. Ich beobachtete, wie Amanda, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, in einem rosafarbenen Jogginganzug die Stufen ihres Hauses herunterkam. Sie sah so jung, hübsch und optimistisch aus! Und unversehrt. Nichts an ihr erinnerte an die übel zugerichtete Frau, die ich im Krankenhaus gesehen hatte. Plötzlich wollte ich nicht länger hier sein, aber ich konnte sie jetzt nicht im Stich lassen. Also trat ich aus dem Lichtkreis der Laterne, spazierte neben ihr her und sorgte dafür, dass ich langsam für sie sichtbar wurde.
»Dawn?« Sie verlangsamte den Schritt. »Was machst du denn hier?«
»Ich gehe spazieren. Darf ich dich begleiten?«, fragte ich.
Amanda zögerte, als ihr Traum und ihre Erinnerung miteinander in Konflikt gerieten. Ich spürte ihre Verwirrung und Unentschlossenheit deutlich. Auf der einen Seite wusste sie, dass der Abend so nicht verlaufen war, auf der anderen Seite wollte sie die Geschichte neu schreiben.
»Hm, na gut.«
Wenig später erreichten wir eine Gegend, die viel finsterer und weniger einladend wirkte. Hier musste es geschehen sein. Ich sah die Umgebung jetzt genauso, wie Amandas Erinnerung sie gespeichert hatte.
Es war offensichtlich, dass Amanda nicht weitergehen wollte. Dennoch setzte sie, von ihrer Erinnerung gedrängt, langsam ihren Weg fort. Sie wusste, dass sie es tun musste.
Ich sagte nichts. Eigentlich hätte ich sie am liebsten vollgequatscht, aber ich hatte Angst, etwas zu sagen oder zu tun, was sie verunsicherte.
Es wurde immer dunkler, und die Lichter wurden schummriger. Da packte Amanda plötzlich meine Hand. Doch bevor ich zufassen konnte, wurde sie von jemandem fortgerissen. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich einen Arm in einem schwarzen Jackenärmel, der Amanda in eine Häuserlücke zog. Ich hörte ihre Schreie, gedämpft durch etwas, das ihr den Mund verstopfte. In den umliegenden Häusern hörte sie niemand.
Instinktiv rannte ich hinter ihr her in den Durchgang, wo ein Mann sie zu Boden geworfen hatte. Er kniete zwischen ihren Beinen, und ich hätte ihm nur einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf verpassen müssen, um ihn aufzuhalten.
Aber das hier war nicht die Realität, und wenn ich ihn verletzte, hätte sich damit für Amanda gar nichts geändert.
Stattdessen ging ich um sie herum und kniete mich hinter ihren Kopf. Das Pflaster in dem Durchgang war rauh, und kleine Steinchen drückten sich durch die Jeans in meine Knie. Mit der Kraft meines Willens ließ ich sie verschwinden und streckte die Hand nach Amanda aus.
Der Mann hatte ihr einen Knebel in den Mund geschoben und hielt mit einer Hand ihre Arme über den Kopf, während er mit der anderen an ihrer Jogginghose zerrte. Als sie sich wehrte, schlug er sie, und zwar fest. Ich hörte ihr Schluchzen und seinen schweren Atem. Mir wurde schlecht.
Ich legte Amanda die Hände auf den Kopf und streichelte ihre Schläfen und ihr Haar. »Sieh dir sein Gesicht an«, sagte ich.
Wimmernd schüttelte Amanda den Kopf. Erneut schlug der Angreifer sie. Jetzt hatte er ihr die Hose ausgezogen. Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht einfach hier sitzen und zusehen, wie …
Stück für Stück nahm ich ihr die Angst. Ich nahm ihr auch die Schmerzen. Behutsam rieb ich mit den Daumen über ihre Stirn und hielt ihren Kopf fest, so dass sie ihn ansehen musste. »Sieh ihn an. Es ist in Ordnung«, sagte ich. Und dann nahm ich ihre Angst und ihren Schmerz in mich auf. Wie Öl, vermischt mit grobem Sand, überströmte er mich und hüllte mich ein. So etwas hatte ich noch nie im Leben gespürt.
Unwillkürlich schrie ich auf, ließ Amanda jedoch nicht los. Langsam zog ich den dunklen Schleier fort, mit dem Amandas Geist die Züge des Mannes verhüllt hatte.
Sie wehrte sich und schnappte nach Luft. Plötzlich zog er seinen Arm zurück und hob den Kopf. Als seine Faust niedersauste, sah ich sein Gesicht. Und Amanda sah es auch. Es war normal und unauffällig, abgesehen davon, dass es hassverzerrt war.
Furcht raste durch meine Adern – Amandas Furcht. Doch dieser Scheißkerl konnte mir nichts
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