Wächterin der Träume
wollte.
Ich sah ihn an – sah ihn wirklich an – und entdeckte nichts in seinem ernsten Gesicht, was mich an seinen Gefühlen für mich zweifeln ließ. Er gehörte mir, das stand außer Frage. Warum hatte ich dann das Gefühl, so viel für Amanda tun zu müssen? Warum machte ich es mir zur Aufgabe, ihren Angreifer zur Strecke zu bringen?
Ich nehme an, Noah war nicht der Einzige mit einem Heldenkomplex.
»Ich glaube, ich bin dir noch ein bisschen mehr verfallen«, flüsterte ich.
Für einen Augenblick zog er die Stirn kraus, dann verstand er und zeigte dieses schiefe Lächeln, bei dem mein Magen Purzelbäume schlug. »Ich fang dich auf«, versprach er und legte seine Hand an meine Wange.
Dann waren seine Lippen auf meinen, und mein letzter Gedanke, bevor ich meinen Geist vollständig abschottete, war, dass Noah mir hoffentlich vergeben würde, wenn er herausfand, dass ich ihn angelogen hatte. Ich wollte mich wirklich vorsehen, aber ich musste einfach etwas unternehmen.
Und ich wusste auch schon, was.
Dank meiner einzigartigen Fähigkeiten konnte ich meine Träume bis ins letzte Detail beeinflussen. Normalerweise tat ich das nicht, denn träumen machte mir unheimlich Spaß, und außerdem hatte ich, wie jeder andere auch, Dinge zu verarbeiten. In dieser Nacht jedoch, nachdem ich Noah verlassen hatte, begab ich mich in die Dunkelheit. Es war nicht wie in einem Raum oder einer Kiste und etwa einer Höhle. Es war einfach finster – wie am dunklen Himmel, wenn weder Mond noch Sterne leuchteten.
Ungestört richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das, was ich in Amandas Traum gesehen hatte, und auf meine eigene leibhaftige Begegnung mit Durdan. Ich konzentrierte mich darauf, was er »fühlte«, und folgte diesen etwas unscharfen Eindrücken. Wenn ich einen Menschen einmal persönlich getroffen habe, fällt es mir ziemlich leicht, mich auf die Spur seiner Traumidentität zu setzen. Es ist schwer zu beschreiben – es handelt sich nicht direkt um ein Gefühl, einen Geschmack oder Geruch, sondern eher um eine Kombination aus allem. Man könnte es so ausdrücken, dass jedes menschliche Wesen im Traumreich eine unverwechselbare Identität besitzt, die jemandem wie mir hilft, den Träumenden aufzuspüren. Als mir also Durdans »Duftwolke« in die Nase stieg, nahm ich mit Hilfe meiner Sinne die Verfolgung bis zur Quelle der Wahrnehmung auf. Dort angekommen, vertrieb ich die Dunkelheit und stellte fest, dass ich mich in einem Laden – seinem Laden – befand.
Polierte dunkle Dielen glänzten unter meinen Füßen. Alles war sauber, nirgendwo ein Staubflöckchen oder ein Schmutzfleck. Vor mir tauchte eine große Ladentheke aus dem gleichen Holz wie die Dielen auf, komplett mit alter Ladenkasse und so weiter.
Nach und nach kam der ganze Raum zum Vorschein, und ich blieb stehen und blickte mich um. Ich war von Puppen umgeben. Hundert Gesichter, von reinem Weiß bis zu Schokoladenbraun, starrten mich unter glänzendem, sorgfältig frisiertem Haar an.
Als ich um eine Vitrine herumging, entdeckte ich einen kleinen dunkelhaarigen Jungen, der in einem von zwei wuchtigen Ledersesseln nicht weit vom großen Schaufenster entfernt saß.
Er hielt eine Puppe in der Hand. Sie war im Stil der zwanziger Jahre gekleidet und trug zu ihrem glänzenden schwarzen Bubikopf ein paillettenbesetztes Stirnband. Die Perlen auf ihrem Fransenkleid waren eindeutig von Hand aufgenäht. Der Junge linste ihr unter den Rock und war offenkundig enttäuscht über das, was er sah. Ich musste lächeln.
Aus dem hinteren Teil des Ladens näherten sich Schritte – tack, tack, tack. Es waren schwere Schuhe von der Art mit den breiten Absätzen, doch die energische Gangart verriet mir, dass es eine Frau war, die dort kam.
»Was machst du da?«, herrschte sie den Jungen an. »Sitzt da herum und spielst mit Puppen, wo es doch genug Arbeit gibt!« Sie riss dem Jungen die Puppe aus der Hand.
Der Junge schwieg und blickte die Frau nicht einmal an. Doch die verblüffende Ähnlichkeit verriet, dass die beiden Mutter und Sohn waren.
»Ich sage dir, du wirst noch einmal enden wie dein Vater.« Sie schüttelte die Puppe vor dem Gesicht des Jungen. »Hast du ihr unter den Rock geschaut?«
Ihr Sohn blickte noch immer nicht auf, nahm ihr jedoch die Puppe wieder aus der Hand. Er konnte gar nicht anders, sie drängte sie ihm ja förmlich auf.
»Ja, genau wie dein Vater«, sagte sie hämisch. »Wahrscheinlich rennst du auch eines Tages davon und lässt mich hier
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