Wächterin der Träume
zu. Dann kann ich auf Notwehr plädieren, wenn ich dir in den Hintern trete.« Na ja, zugegeben, da sprach mein dunkles Ich aus mir. Ich spürte, wie es in mir mit den Füßen scharrte und sich nur zu gern auf die Oberste Wächterin gestürzt hätte, aber das ließ ich nicht zu. Schließlich wusste ich nicht, wozu ich fähig war, und wollte es auch gar nicht genau wissen.
Ihre blassen Augen blickten hart. »Du hast ja keine Ahnung, was ich mit dir machen kann.«
So musste es sein, wenn man in den Krieg zog – es ging nicht nur darum, sich gegen einen Angriff zu wehren oder zu kämpfen, wie ich gegen Karatos gekämpft hatte. Ich hatte mich auf den Kampf mit einem Feind eingelassen, der mir wahrscheinlich einen solchen Tritt versetzen konnte, dass ich bis zum Mond flog – doch ich sehnte mich mehr nach diesem Kampf als nach der gesamten Frühjahrskollektion von M. A. C.
»Du würdest dich wundern, wozu ich fähig bin«, sagte mein dunkles Ich grinsend. »Mach nur weiter so, und du wirst es gewahr werden.«
Sie quittierte meine Unverschämtheit mit vor Zorn verzerrtem Gesicht. »Dich mache ich fertig«, vesprach sie, bevor sie mir die Tür vor der Nase zuschlug.
Statt Furcht oder Reue empfand ich eine wilde Freude und so etwas wie … Blutrünstigkeit.
»Nicht, wenn ich dich zuerst erledige«, murmelte ich und ging lächelnd davon.
Meine Mutter sah zum Kotzen aus.
Ich beobachtete, wie sie uns beiden Tee einschenkte. Sie wirkte noch zerbrechlicher als sonst, und der Schimmer, der sie gewöhnlich umgab, war verschwunden. Blass und müde saß sie da. Sicher, sie war elegant wie immer in ihrem pflaumenblauen Pullover und der schokoladenbraunen Hose, den Schuhen von Prada und dem Chanel-Schmuck. Aber die Zeichen waren nicht zu übersehen.
»Wie kommst du zurecht?«, fragte ich überflüssigerweise, als wäre die Antwort nicht überdeutlich gewesen.
»Ganz gut«, antwortete sie, doch selbst ihre Stimme klang erschöpft. »Der Sog der Menschenwelt ist sehr stark.« Sie lächelte freudlos. »Wahrscheinlich findest du es gut, dass ich jetzt für meine Sünden büßen muss.«
Das hätte ich eigentlich auch gedacht. »Aber nicht so. Du sollst nicht dazu gezwungen werden.«
Überrascht stellte sie die Teekanne auf das Tablett und zögerte kurz, bevor sie sagte: »Manchmal denke ich, ich sollte zulassen, dass dieser Arzt mich zurückholt, und richtig Abschied nehmen. Aber ich habe Angst.«
Ich nahm mir ein kleines Thunfischsandwich und knabberte an einer Ecke. »Fürchtest du, wenn dieser Kerl dich aufwecken kann, könnte er auch verhindern, dass du hierher zurückkommst?« Davor hätte ich zumindest Angst gehabt.
Sie nickte. »Ist das nicht schlimm von mir?«
Ich zuckte die Achseln und wunderte mich, wie freundlich meine Gefühle für sie geworden waren. »Dein Leben findet hier statt.« Jetzt war es an mir, trübe zu lächeln. »Du weißt wenigstens, zu welcher Welt du gehören willst.«
Eine schmale Hand legte sich über meine, zerbrechlich, aber warm und erstaunlich kräftig. »
Ich
muss mich entscheiden, Dawn,
du
nicht. Du kannst beiden Welten angehören.«
Ich stieß ein verächtliches Lachen aus. Hätte man nicht auch sagen können, dass ich zu keiner von beiden gehörte? Ich war davon überzeugt, dass ich in beiden Welten nicht als das akzeptiert wurde, was ich war. »Ich weiß nicht, ob ich diesen Spagat auf Dauer fertigbringe.«
»Wenn es einer kann, dann du. Du hast schon immer getan, was du dir in den Kopf gesetzt hattest.«
Daran konnte ich mich gar nicht erinnern, aber ich widersprach ihr nicht. Ich wünschte sehr, dass sie recht hatte.
Also wechselte ich das Thema. »Morpheus bekommt bei der ganzen Sache doch bestimmt zu viel.«
Mom verdrehte die Augen. »Und ob. Er will mich unbedingt hierbehalten. Wenn er nicht wäre, hätte ich schon aufgegeben.«
Wenn er nicht wäre, wäre sie überhaupt nicht hier, dachte ich, sagte jedoch nichts. Ich nahm es meiner Mutter seit langem übel, dass sie uns verlassen hatte, doch natürlich hatte ich Verständnis dafür, wenn ein Mann einen so wollte, wie man war. Ich hatte gehofft, Noah wäre dieser Mann für mich, doch wie sollte das gehen, wenn dauernd jemand aus dem Traumreich es auf mich abgesehen hatte und Noah für seine Zwecke einspannte?
Außerdem war da noch diese Andeutung, dass er etwas vor mir verbarg – etwas, das meine Gefühle für ihn verändern könnte.
Von dem Teller, der vor mir stand, nahm ich mir ein Zuckerplätzchen – ein
Weitere Kostenlose Bücher