Während die Welt schlief
Bann. Eine plötzliche Liebe verlangte danach, sich zu entfalten. Ein zauberhafter Wunsch, den keiner der beiden sich erlauben konnte. Ein vertrauter Ruheplatz für zwei Fremde, der beide anzog.
»Die Juden! Die Juden!«, hörten wir plötzlich. Dieser Warnruf, der durch das Lager schallte, vertrieb den Augenblick. Mansur machte das Licht aus, zündete eine Laterne an und umarmte seinen Bruder. Jamil küsste Huda auf die Stirn. »Allah yihmeek ya ibni«, weinte sie. »Gott beschütze dich, mein Sohn.«
»Khaltu Amal, nach der meine Schwester benannt wurde«, sagte Jamil mit ausdrucksloser Stimme. Er gestattete sich keinen weiteren Blickkontakt zu Sara, der Oase, die neben mir stand.
Stattdessen gab er sich damit zufrieden, mit den Augen über die Haut meiner Tochter zu fliegen, eine Art Liebkosung.
Auch eine Entschuldigung, ein letztes Bedauern. Schon ein Todesritual.
Jamil nahm den einzigen Bilderrahmen von der Wand herunter, küsste das Glas und hängte das Foto von Jamal, seinem für immer zwölf Jahre alten Zwillingsbruder, wieder zurück an seinen Platz.
Dann verschwand er.
Um zwei Uhr morgens rollten dröhnende Panzer heran, wie brüllende Raubtiere. Meine Tochter und ich klammerten uns aneinander. Die metallene Teekanne, während der Nacht abgekühlt, war immer noch dort, wo wir sie hingestellt hatten. Mansur hüllte sich tiefer in sein Schweigen. Er hörte nicht auf zu zeichnen. Huda legte ihren Teppich in Richtung Mekka aus und betete leise.
Mit der Zeit drangen weitere Geräusche an unser Ohr. Das Knallen der Panzergeschosse. Das Geheule der Helikopterraketen. Das Donnern der Luftangriffe. Das Krachen der Explosionen. Der Krach der militärischen Macht war eingebettet in eine trügerische Ruhe, in der man das Geschrei der armen Tiere, die ihr Loch verließen, und das Weinen der Kinder hören konnte, während die Soldaten von Haus zu Haus zogen. Die Klänge von Tod und Zerstörung schwollen an und wieder ab, über neun Tage hinweg, die wir im hintersten, innersten Winkel verbrachten, in einem Küchenbunker, größer als damals.
»Weißt du noch?«, fragte Huda mich.
»Ja.«
Wir wussten, dass Häuser und Gebäude nicht weit entfernt von uns gerade dem Erdboden gleichgemacht wurden. Das Kreischen der Bulldozer, eine Orgie von Ungeheuern, ließ die Erde unter uns beben, und wir dachten uns einen Fluchtplan aus, falls sie bis zu uns vordringen würden. Huda richtete ein
kleines Päckchen mit Familienfotos und den von der UNO ausgestellten Familienausweisen und verstaute es in der Brusttasche ihrer Thoba. Sara und ich schoben unsere amerikanischen Pässe in unsere BHs. Die Schuhe ließen wir alle an.
Die ganze Zeit über drückte ich Sara an mich, wie in einem Traum, der nur für uns beide bestimmt war. Ich verliebte mich neu in sie, als hätte ich sie gerade erst geboren. Neun Tage lang sprachen wir miteinander, erweckten die nie ausgesprochenen Worte eines ganzen Lebens. Während der Tod vom Himmel regnete und Kugeln die Außenwände von Hudas Haus durchsiebten, streiften Sara und ich den Kummer ab, den wir so lange gepflegt hatten, und beschworen unsere gemeinsame Sehnsucht nach Majid, trotz oder vielleicht auch wegen der Todesangst, die wir empfanden.
»Ich wollte so viel wissen. Mit dir über ihn reden. Warum hast du nie von ihm erzählt?« Tränen standen in ihren Augen. In denen von Majid. Unendliche schwarze Sphären; im Außenwinkel ein träger Bogen, überragt von einer Braue, die ein Lächeln bilden konnte. Das Gesicht unserer Tochter war die weibliche Ausgabe von Majid. Im Staub meiner Erinnerungen konnte ich nichts Ganzes finden, nur Fragmente von ihm. Eine bestimmte Linie im Gesicht. Eine Narbe. Eine Locke im Nacken. Der Himmel und das Mittelmeer, die in einem einzigen Blauton miteinander verschmolzen. Seinen Geruch aber konnte ich heraufbeschwören. Die Tropfen seines Schweißes nach der Arbeit und der Liebe. Sogar so viele Jahre später duftete Majid nach diesem Blau.
»Es tut mir leid, Sara.« Ich öffnete die Hände und entspannte meinen Kiefer. »Ich hatte Angst … sehr viel Angst davor, was ich dabei empfinden könnte.« Ich legte mein Herz bloß. »Erinnerst du dich noch an den Einsturz der Zwillingstürme am 11. September?«
Sie runzelte die Stirn. »Ja. Du bist den ganzen Tag darauf in deinem Zimmer geblieben und nicht zur Arbeit gegangen. Ich dachte, dass du dir die Sache sehr zu Herzen genommen hast, und ich gebe zu, dass ich das damals nicht verstanden habe. Aber was hat
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