Während die Welt schlief
Gratulationen entgegennehme«, insistierte sie.
Mit einem Blick, in dem sich die Erschöpfung aus vielen schlaflosen, tränenreichen Nächten spiegelte, fragte Umm Jamal, unsere Nachbarin im Lager, die Jungen immer wieder: »Weißt du irgendetwas über Jamal, Yussuf? Sag es mir, Mahmud, mein Sohn! Taha? Bitte, Omar, weißt du, was mit meinem Jamal ist? Bitte, mein Sohn! Hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?« In der Hoffnung, Yussuf einen Hinweis auf das Schicksal ihres Sohnes vom Gesicht ablesen zu können, ruhten
ihre Augen unverwandt auf meinem Bruder, der ausweichend von einer Seite zur anderen sah.
»Jamal und ich sind getrennt worden. Mehr weiß ich nicht«, log Yussuf.
Später erfuhr ich, dass an Jamal ein Exempel statuiert worden war. Soldaten hatten ihn vor den Augen meines Bruders und fünfzig anderer junger Burschen exekutiert. Nachdem man ihm die Hände gefesselt und die Augen verbunden hatte, hatte er sich hinknien müssen, und ein israelischer Soldat hatte dem Jungen, der täglich zu uns nach Hause gekommen war, der auf staubigen Plätzen Fußball gespielt und mich Ammura – Anbetungswürdige – genannt hatte, der mit uns Ausflüge nach Jerusalem, zum Jordan, nach Bethlehem und Jericho unternommen hatte, eine Kugel in den Kopf geschossen. Jamal war sechzehn Jahre alt, als ein Exempel an ihm statuiert wurde.
Yussuf war teilnahmslos und hatte keine Lust, zu essen oder zu reden. Seine Augen bestanden fast nur aus Pupillen und schienen Unheimliches wahrzunehmen.
Die Menge verlief sich. Amin, Faruk und Mahmud blieben bei uns. Mama und Umm Abdallah saßen auf dem Küchenboden, hielten sich an der Hand, priesen Gott und bestaunten ihre halb toten, aber noch unter den Lebenden weilenden Jungen, als sähen sie sie zum ersten Mal. Ich kochte Kaffee, und Huda servierte ihn pflichtbewusst auf einem Tablett. Als Yussuf mein Starren bemerkte, stand er auf und zog mich in seine Arme. Der raue, spitzenartige Stoff seines grünen Hemds kratzte auf meinem Gesicht. Seine Umarmung machte mich fast glauben, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war.
Doch Baba war noch nicht zurückgekehrt.
Später, als Mahmud und Faruk schliefen, hörte ich zufällig ein Gespräch mit, das mein Bruder mit Amin führte. Yussuf hatte sich eine bedächtige Sprechweise angewöhnt, und der
Krieg hatte seinem Wesen eine Intensität verliehen, die ihn eines Tages tief in die Liebe und in die Geschichte hineinziehen würde.
»Er war es!«, sagte Yussuf. »Ich habe die Narbe gesehen! Er lebt, und er ist ein Yahudi, den sie David nennen!«
Mein Bruder hatte einen jüdischen Soldaten mit einer Narbe im Gesicht gesehen, die genauso aussah wie die unseres Bruders Ismael, der sieben Jahre vor meiner Geburt verschwunden war.
TEIL 3
Die Narbe Davids
11
Ein Geheimnis wie ein Schmetterling
1967
J olanta betrachtete David, der mit seinen breiten Schultern über den Esstisch gebeugt saß. Es war nun schon so lange her, dass Mosche ihn als verschrecktes kleines Bündel zu ihr gebracht hatte.
Sie dachte an dieses wunderbare Geschöpf, das jetzt zum Mann geworden war. David küsste sie auf die Wange und sagte: »Ich liebe dich auch, Ma!« Er war so klein gewesen, als er damals in ihren Armen gelegen hatte. Heimlich hatte sie ihn an ihre trockene Brust gehalten, damit er nuckeln konnte.
Sie verhätschelte und umsorgte ihn. Im Winter zog sie ihm zu viele Lagen Kleidung an, was er bis zum Alter von sieben tolerierte. Dann entdeckte er, dass er sich weigern konnte, die Sachen zu tragen, die sie für ihn bereitlegte. Aber ihr gefiel sogar sein Trotz. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er plötzlich alleine entscheiden wollte.
Immer machte sie sich Sorgen, und immer entgegnete er: »Mach dir keine Sorgen, Ma, ich komme schon zurecht.« Als er mit acht Jahren zum ersten Mal woanders übernachtete, fürchtete sie, er könnte Heimweh bekommen. Sie nahm ihm
das Versprechen ab, zu Hause anzurufen, egal, um welche Uhrzeit. Als er mit zehn Jahren auf sein erstes Camping-Wochenende fuhr, war die Liste ihrer Sorgen so lang, dass selbst sie nicht mehr alle zusammenbekam. Sie hatte Angst, dass er vor der Schule nicht genug gefrühstückt hatte, dass er sich beim Fußballspielen wehtun oder ihm ein Mädchen das Herz brechen könnte. Sie machte sich Sorgen, als er auf seine erste Party ging, denn dort würde es Alkohol geben. Und wenn alles bestens schien, fragte sie sich, ob er ihr etwas verheimlichte, über das sie sich hätte Sorgen machen
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