Während die Welt schlief
müssen.
Sie fürchtete, eines Tages würde er herausfinden, dass er nicht ihr Sohn war. In dem Jahr, als David achtzehn wurde, war es am schlimmsten.
Sie wollte nicht, dass ihr Junge zur Armee ging. Aber sie hatte keine Wahl, ebenso wenig wie ihr Sohn. Israel war ein Zufluchtsort für die Juden in einer Welt, in der man anderswo Todeslager für sie gebaut hatte. Jeder Jude hatte die nationale und moralische Verpflichtung, in der Armee zu dienen. Im Juni 1967, als Israel in den Krieg zog, hatte David schon ein Jahr im Militär hinter sich.
Die Armee schickte ihn nach Norden, auf die Golanhöhen. Er war stark und bereit, seinem Land zu dienen. Bereit zu kämpfen.
Er gehörte dem Bataillon an, das die Syrer zu Vergeltungsaktionen hinreißen sollte, damit Israel die Golanhöhen annektieren konnte. General Mosche Dajan ließ Traktoren herbeischaffen und ein kaum fruchtbares Gebiet in der entmilitarisierten Zone umpflügen. Man wusste schon vorher, dass die Syrer schießen würden. Wenn sie nicht gleich reagierten, sollte Davids Einheit die Traktoren weiter Richtung Syrien bewegen, bis der Feind schoss. Es gab Feuergefechte, später kam auch die Luftwaffe dazu. Aber als Israel am letzten Tag die USS Liberty
im Mittelmeer angriff, wurde David wegen einer Handverletzung nach Hause geschickt.
Die Kugel eines Kameraden hatte Davids Handfläche gestreift. Jolanta war krank vor Sorge, als sie erfuhr, dass ihr Sohn verwundet worden war. Sie beruhigte sich erst, als David nach Hause kam.
Sie fiel ihm um den Hals. »Mein Junge! Lass deine Hand sehen.«
»Es ist nicht schlimm, Ma. Sie haben die Wunde versorgt.«
Unendlich dankbar inspizierte sie seine Hand, um sicherzugehen. »Bist du hungrig?« Jolanta gefiel es, ihm beim Essen ihrer Kreplach zuzuschauen. Außerdem hatte sie Kugel und Blintze zubereitet. Ich überlebe es nicht, wenn ihm etwas zustößt. Seit dem Tag im Juli 1948, als er zu ihnen gekommen war, war ihr gesamtes Sein darauf ausgerichtet, voll und ganz seine Mutter zu werden. Irgendwo in einer stillen Ecke ihrer Liebe schlummerte das Geheimnis. Zwar hatte sie nie geplant, David die Wahrheit vorzuenthalten. Aber wie er zu ihrem Sohn geworden war – darüber wurde nicht gesprochen. Ein Geheimnis wie ein harmloser Schmetterling, der über einem Feld der Liebe flatterte.
Doch als Jolanta die verbundene Hand ihres Sohnes sah, wurde ihr klar, dass sie den Verlust ihres Sohnes nicht würde ertragen können. Sie konnte nicht verhindern, dass er in der Armee diente, aber sie konnte die Wahrheit zurückhalten. Er ist mein Sohn, das ist die einzige Wahrheit, die er braucht , beschloss sie und sperrte den Schmetterling in einen Käfig.
12
Yussuf, der Sohn
1967
E in junger Mann, ein Student der Universität zu Bethlehem, kommt mitten in meinen Unterricht über polare und parametrische Kurven in den Raum gestürmt. Unter normalen Umständen hätte ich die Unterbrechung vielleicht angenehm gefunden. Aber nicht heute, nicht diese Nachrichtenexplosion in meiner Vorlesung.
»Die Juden bombardieren Ägypten! Es ist Krieg!«, schreit er und läuft weiter den Korridor hinunter.
Krieg. Dieses Wort sprengt den Rucksack aus Furcht, den ich mit mir herumgetragen habe, seit ich fünf war. Seit 1948, als der Krieg und ich einander vorgestellt wurden.
Mir gefriert das Blut.
Als ich wieder zu mir komme, sind meine Studenten schon aus dem Raum gelaufen, unter dem panischen Ruf »Allahu akbar«.
Ich muss zurück nach Jenin.
Menschenmassen verstopfen die Straßen von Bethlehem. Ich drücke und schiebe mich mit ganzem Körpereinsatz durch die Menge, bis ich bei dem Wohnheim angekommen bin, das
von der Omar-bin-al-Khattab-Moschee betrieben wird. Dort habe ich ein kleines Zimmer gemietet.
Haja Umm Nasim öffnet den Guckschlitz der uralten Holztür und schließt ihn schnell wieder, als sie mich erkennt. Der Riegel knackt, dann schwingt die schwere Tür langsam auf. Haja Umm Nasim wirkt klein und zerbrechlich im riesigen Türrahmen. Sie winkt mich herein.
»Yussuf, ya Walidi!«, ruft sie nervös. »Hast du es schon gehört? «
Das ist das erste Mal, dass sie meinen Namen sagt. Während meiner zwei Jahre in Bethlehem hat sie mich immer »Walidi« genannt – Sohn. Sie bringt mir täglich das übrig gebliebene Essen, wenn ich von der Arbeit komme. »Hier, ya Walidi, iss«, sagt sie freundlich.
Alles, was Haja Umm Nasim tut oder sagt, ist voller Güte. Wenn sie ganz aufrecht steht, ist sie nicht mal einen Meter fünfzig groß. Sie
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