Während die Welt schlief
Nachricht, dass die Männer zurückkehrten, überwältigte die Menschen, und sie strömten in die Gassen. Vielleicht fühlten sie sich dank der schieren Masse in Sicherheit, vielleicht vergaßen sie auch einfach, dass Gefahr drohte. Ich glaube, die Soldaten wussten einfach nicht, was sie tun sollten.
»Allahu akbar«, wieder und wieder. Zehnmal, hundertmal. Eine Kakophonie von »Allahu-akbars« vereinte sich zu einem kraftvollen Sprechchor, als die Menschen zusammenströmten. Es waren nur wenige Männer dabei. Nur die sehr alten oder sehr jungen waren verschont geblieben. Von meinem Blickpunkt aus sah man ein Meer aus verhüllten Köpfen. Mütter, Schwestern, Töchter und Ehefrauen weinten und skandierten gemeinsam in Erwartung dessen, was das Schicksal ihnen vierzig Tage nach Kriegsende bringen sollte.
Als Yussuf es bis an den Rand des Lagers geschafft hatte, waren alle Lagerbewohner, Tausende von Menschen, auf den Beinen und riefen: »Allahu akbar.« Er hatte ein Bündel bei sich, das offenbar zusätzliche Kleidung enthielt. Wie viele andere Jungen hatte er es unterwegs von Leuten erhalten, die erfahren hatten, dass sie sich hatten nackt ausziehen müssen.
Soldaten in Lastern fuhren heran und begannen, in die Luft zu schießen. Die Jungen aus unserer Nachbarschaft, fünf an der Zahl, warfen sich zu Boden, und die Menge zerstreute sich. Die meisten verdrückten sich in die Gassen rund um unser Viertel. Lamya und die anderen Mädchen waren schon
weg, und als die Schießerei losging, sprangen Huda und ich durchs Fenster in eine leere, zum Teil ausgebombte Wohnung.
Ich erspähte Yussuf in der Ferne. Er trug braune Hosen, die ihm zu klein waren, und ein zerknittertes grünes Hemd, das Erstbeste, was er bekommen hatte, um seine Blöße zu bedecken. Baba befand sich nicht unter den Männern. So kauerte ich mit Huda am Fenster dieses halb zerbombten Hauses und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Beide hatten wir uns wie Föten zusammengerollt – wie schon in der Küchengruft – , beide schauten wir auf Hunderte verwirrter Menschen hinab, die die Gasse unter uns verstopften.
Die anfängliche Euphorie kühlte sich trotz der Julisonne merklich ab, als die Jungen nahe genug herangekommen waren und wir ihre Narben und die frischen Male auf ihren Körpern sehen konnten, die von regelmäßigen Schlägen zeugten.
Yussuf war nur vierzig Tage fort gewesen, schien aber um zehn Jahre gealtert. Er war dünn geworden, und ihn so zu sehen schnürte mir das Herz zu.
Baba war für immer fort. Bis zu ihrem Tod wartete meine Mutter auf ihn, genauso wie sie darauf wartete, nach Hause zurückkehren zu können, genauso, wie sie in ihren Gedanken nach Ismael suchte.
Ich musste glauben, dass Baba tot war. Ich konnte den Gedanken, dass er fern von uns litt, nicht ertragen, und ich zog vor zu glauben, dass er im Himmel war, eine stolze Erscheinung in Dishdasha und Kufiya, die Spitze seiner Pfeife an den Lippen, eine Tasse Kaffee neben sich und eines seiner geliebten Bücher in den Händen. Mein ganzes Leben habe ich darum gekämpft, mir dieses Bild von ihm zu bewahren – das Bild eines starken, stolzen und liebenden Vaters. Doch zwangsläufig holte mich das Bild des toten Abu Sameeh ein, der mit seinem
Gewehr in der Hand neben den Trümmern seines Hauses gelegen hatte, und sein Gesicht verschmolz schließlich mit Babas Gesicht.
Als die Jungen näher kamen, hielt ich Ausschau nach Ammu Darwish und meinen Cousins. Keiner von ihnen war unter den Herannahenden, und ich dachte, auch sie hätten nicht überlebt. Doch als sie Monate später nach Jenin zurückkehrten, erfuhr ich, dass sie alle in den Berghöhlen Zuflucht gefunden hatten.
Yussuf und die fünf anderen Jungen betraten das Haus, und Leute liefen zusammen, um sie zu ihrer sicheren Rückkehr zu beglückwünschen und sich nach den Vermissten aus ihrer eigenen Familie zu erkundigen.
Faruk, Amin, Taha, Omar, Mahmud und Yussuf saßen nahe beieinander und reichten einen Laib Brot herum. Sie waren überwältigt, erschöpft, fix und fertig und seelisch gebrochen. Einige Zuschauer zwangen die anderen, den Jungen mehr Platz zu machen und sie in Ruhe zu sich kommen zu lassen. Faruks Mutter, Umm Abdallah, stand hinter ihrem Sohn, umfasste seine Schultern und küsste ihn mit traurigem Lächeln auf den Kopf. Ihr ältester Sohn Abdallah war getötet worden, doch von Trauerbezeugungen wollte sie nichts wissen. »Ich schwöre bei Allah, dass ich für das Martyrium meines Sohnes nur
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