Während die Welt schlief
hinzuweisen.
»Ich weiß.«
»Sie trägt ihr Seidentuch.«
»Ich weiß.«
»Sie ist mit Umm Abdallah zusammen.«
Am liebsten hätte ich sie angeschrien, doch ich wusste, dass etwas so Gefühlloses nach allem, was sie durchgemacht hatte, zu grausam gewesen wäre. In meiner jugendlichen Dummheit hatte ich keinen Sinn für Hudas Einfühlungsvermögen, und statt es zu schätzen, ließ ich mich davon auf die Palme bringen. Ich wünschte, ich wäre für sie eine genauso gute Freundin gewesen, wie sie es für mich war.
Immer noch auf dem Dach stehend, fragte Huda: »Ist Faruk auch dabei?«
Ich antwortete nicht. Ich konnte Baba in der sich nähernden Menge nicht ausmachen.
»Glaubst du, er ist auch nackt?« Sie starrte auf ihre Füße, blickte dann zum Himmel und gab sich selbst die Antwort: »Wahrscheinlich. Sie sind alle nackt.«
Lamya, das Mädchen, das ich um seine perfekten Überschläge beneidete, kletterte zu uns herauf. »Warum sind sie nackt?«, fragte sie.
Huda antwortete: »Die Juden haben ihre Kleider gestohlen …«
Ich fühlte mich bedrängt. Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen. Wieder hatte ich eine Morgendämmerung ohne Baba erlebt. Diese furchtbare Wahrheit lag so schwer in der Luft, dass das Atmen mir schwerfiel. Die Lücke, die Baba nach Kriegsbeginn hinterlassen hatte, hatte sich vergrößert und war inzwischen so groß wie das Meer und all seine Fische. So groß wie Himmel und Erde und alle Vögel und Bäume. Der Schmerz in meinem Herzen war so groß wie das Universum und all seine Planeten.
Der Krieg veränderte uns alle, vor allem Mama. Er ließ sie verwelken. Ihre innere Stärke schmolz dahin. Was blieb, war ihr Körper, nur mehr eine Hülle, die häufig Wahnvorstellungen Raum gab. Nach der Besetzung Jenins und dem Verschwinden meines Bruders und meines Vaters verließ Mama kaum noch den Gebetsteppich. Sie hatte kein Verlangen nach Essen und lehnte selbst die dürftigen Rationen ab, die die Laster mit den Hilfsgütern brachten. Ihr Baumwollkleid verfärbte sich schmutzig grau, ihr ungewaschener Körper stank, und ihr Atem wurde sauer. Sie roch nach vergorenem Elend. Ihre Lippen verhärteten sich und sprangen auf, ihr Körper schrumpfte, während sie betete … und betete. Und während ihr Körper an Masse verlor,
sah ich mit an, wie ihre Augen immer ausdrucksloser wurden. Sie verrieten, dass ihr Geist sich der Bürde der Realität allmählich entledigen würde.
Mamas mutiges Verhalten während des Krieges wurde später als Paradebeispiel fellachischer Tapferkeit dargestellt. Sie weigerte sich zu fliehen. Sie war von ihrem Land vertrieben worden, als Ismael verloren ging, und sie hatte beschlossen, dass sie sich so etwas kein zweites Mal würde gefallen lassen. Alle waren übereinstimmend der Ansicht, dass sie damals wirklich tapfer gewesen war. »Viele von uns haben nur große Töne gespuckt, sind aber um ihr Leben gerannt, während Umm Yussuf ihr Wort gehalten hat. Sie schwor, sie würde nicht zulassen, dass die Juden ihrer Tochter das einzige Zuhause nähmen, das sie kannte«, sagten die Leute nach dem Krieg über Mama.
Mama hatte für mich durchgehalten. Und ich hatte sie im Stich gelassen, um mit Schwester Marianne wegzugehen. Das habe ich mir nie verziehen.
An dem Tag, an dem Yussuf zurückkam, empfand ich, so erinnere ich mich, große Zuneigung für Mama. Sie hatte damals noch klare Momente, war dann aber weicher gestimmt als früher. Vielleicht hatte der Wahnsinn ihre Strenge besiegt. An diesem Tag erlebte ich sie als Mutter, die in ihrer Rolle aufging, und alle Wunden, die ihr zerrüttetes Leben und ihr morscher Geist ihr zugefügt hatten, waren für einen Moment geheilt. Ich erlebte sie als Frau, die ihr Leben riskiert hatte, um mich vor dem zu schützen, was sie selbst einst erduldet hatte. Ihre Taten waren so aufrichtig wie ihre Tränen. Doch das alles war vergänglich, denn sie hatte schon begonnen, den Verstand zu verlieren. Hätte ich gekonnt, hätte ich diese zarten Momente mit meinen bloßen Händen ergriffen und an einem sicheren Ort verwahrt.
»Allahu akbar!«, schrie sie, als ich ihr sagte, dass Yussuf lebte. Auf ihrem Gesicht zeigten sich, wie es nur selten vorkam, Tränenspuren, als sie sich mit Umm Abdallah in die Menge stürzte, die an den Rand des Lagers drängte, um den heranmarschierenden Jungen und Männern möglichst nahe zu kommen. Wir standen noch unter Militärherrschaft; das Verlassen jedweder Zufluchtsstätte war uns untersagt. Doch die
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