Während die Welt schlief
und biss in sein Brot.
In der Küche krachte ein Teller auf den Boden. David drehte sich um und sah, wie Jolanta erstarrte.
»Alles in Ordnung, Ma?«
»Ich will nicht, dass du noch mal in dieses Gefängnis gehst.«
»Ich habe nicht vor, noch mal da hinzugehen. Aber ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst …«
Mosche starrte auf seinen Teller, warf die Gabel hin und stand auf, indem er seinen Stuhl nach hinten stieß. »Lass ihn gehen, Jolanta. Irgendwann muss er gehen.« Und damit verließ er das Esszimmer und stapfte schwerfällig die Treppe hinunter. Dann überquerte er den Hof, knallte das Tor zu, legte drei Blocks zurück, betrat seinen Zufluchtsort und rief dem Barkeeper zu: »Ben, das Übliche. Mit Eis.«
Mosche hatte immer gewollt, dass David erfuhr, was vor so vielen Jahren geschehen war. Sein Geschenk an Jolanta 1948 war zu einer Last geworden, die er nicht mehr schultern konnte. Diese Wahrheit war kein Schmetterling mehr, sondern ein Dämon – ein Dämon mit dem wunderschönen Gesicht einer arabischen Frau, die ihm Lamm serviert hatte. Das Gesicht einer Frau mit zwei Söhnen, der eine an ihrer Brust, der andere bei ihren Beinen. Das Gesicht einer Frau, die in Mosches Kopf immer noch rief: »Ibni, Ibni!«
Das hatte er alles nicht gewollt. Er hatte sich Erfüllung gewünscht: ein Heimatland, eine Frau, eine Familie. Er hatte gekämpft, um das jüdische Volk zu retten. Doch die schrecklichen Vertreibungen, die Todesopfer, die Vergewaltigungen lasteten
schwer auf seinem Gewissen. Mosche konnte sich all diesen Gesichtern nicht stellen. Er hörte ihre Stimmen. Er war wie ein Getriebener. Ruhe und Trost fand er nur im Alkohol. Darum ging er jeden Tag um die Ecke, dann weitere drei Blocks und betrat seinen Zufluchtsort, um die Dämonen und sich selbst zum Schweigen zu bringen.
Ein paar Tage später fuhr David mit Yarel zum Gefängnis von Ramle. Früh am Morgen waren sie an der Pforte und betraten das Gebäude. Das Stampfen ihrer Armeestiefel hallte von den schmuddeligen Wänden wider. Auf der Krankenstation beugte David sich über Yussufs Bett. Seine Schwellungen waren zurückgegangen, und in seinem immer noch rot gefärbten Arm steckte eine Infusionsnadel, über die er Flüssigkeit bekam. Zwischen ihnen waren weniger als fünfzehn Zentimeter, doch in diesen Raum passten beinahe zwanzig Jahre, ein Krieg, zwei Religionen, ein Holocaust, die Nakba, zwei Mütter, zwei Väter, eine Narbe und ein Geheimnis, das wie ein Schmetterling langsam mit den Flügeln schlug.
David nahm das Handgelenk des Arabers. »Ich fühle seinen Puls.«
Langsam öffneten sich die geschwollenen Augenlider, und Davids Narbe drang durch den Nebel des physischen Schmerzes. Fast zwanzig Sekunden lang sahen sie sich gegenseitig an. Zwanzig Ewigkeiten, in denen die Zeit stillstand und David in zu vielen Fragen zu ertrinken schien. Ist es möglich, dass sie aus Versehen einen Juden festgenommen haben? Einen Juden, der mit mir verwandt ist? Einen Juden, der nach Palästina kam, ohne zu wissen, dass seine Verwandten überlebt haben? Verzweifelt suchte er nach Antworten, öffnete und schloss die Türen seiner Erinnerung, auf der Suche nach Hinweisen, was dieser Gefangene mit ihm zu tun haben konnte.
Eine Träne rann dem Araber aus dem Augenwinkel. Ismael! Er streckte seine Hand nach dem Soldaten aus und wurde wieder bewusstlos. Sein Arm fiel schlaff über die Bettkante.
14
Yussuf, der Mann
1967
I ch verändere mich.
Meine Welt verändert sich von dem Tag an, als Haja Umm Nasim mich zum ersten Mal bei meinem Namen ruft. Ich fahre zurück nach Jenin. Um zu unserem Haus zu kommen, muss ich mich durch die Menschenmenge kämpfen. Meine Schwester ist starr vor Angst. Sie kann mich nicht sehen. Ich will zu ihr. Ich möchte mit ihr sprechen, ihr die Angst nehmen, aber mein Vater ruft mich zu sich. Er gibt mir eine Waffe, die er in seinem Versteck in der Küche aufbewahrt hat, um sich gegen die Raserei zu verteidigen, die sich über die Erde gelegt hat. Zum ersten Mal in meinem Leben halte ich eine Pistole in der Hand.
Ich muss Fatima finden. Du kannst nicht weg, sagt meine Mutter. Mama, ein erfahrenes Kriegsopfer, legt Vorräte an und überlegt sich Verstecke, zusammen mit den anderen Frauen. Sie berichtet mir, dass Fatima mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zum Haus ihres Onkels nach Ramallah gefahren ist. Dort ist sie sicher, fügt sie hinzu.
In den folgenden Tagen bin ich wieder einmal von Feuer und Fliehenden umgeben. Von Angst,
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