Während die Welt schlief
Männerstimme mit Akzent. »Amal?«
»Aywa«, sagte ich. Ich hatte so eine Ahnung, wer am Telefon war. Inzwischen war ich hellwach. Der Anrufer gluckste – das war ein Geräusch, das ich überall erkannt hätte. Es war das gedämpfte Lachen, das immer zuerst aus Yussufs rechtem Mundwinkel entwich und sich dann als Lächeln über seinem hübschen Gesicht ausbreitete. Vor einem halben Leben hatte Fatima mir gestanden, das Lächeln meines Bruders habe ihr Herz zum Schmelzen gebracht, als sie ihn zum ersten Mal sah. Er war sechzehn und sie vierzehn gewesen.
»Endlich, Schwesterchen! Seit Monaten versuchen wir, dich zu finden.«
Jemand übernahm den Hörer. »Amal! Habibti, Liebling! Wir haben dich gefunden.« Es war Fatima.
Amal. Ich weinte, als ich meinen arabischen Namen hörte. Das Telefon konnte nur ungenügend transportieren, was wir empfanden: Sehnsucht und Überwältigung. Wir schluchzten über das Rauschen in der Leitung hinweg.
»Wir bekommen ein Kind.« Ihr erstes. »Wo in Amerika bist du? Wir sind jetzt im Libanon. Du weißt ja, was sie mit der PLO in Jordanien gemacht haben, diese Schweinehunde.«
Ich hörte Yussuf zu seiner Frau sagen: »Nicht jetzt, Habibti.«
»Okay, Schatz.« Und sie sprach weiter.
Es wurde eine Geschichte von endlosen Kämpfen – »Yussuf wird dir alles darüber berichten« –, durch die ein endloser Strom von Liebe floss – »Aber das weißt du ja schon.«
Während des Jahrzehnts nach der Schlacht von Karameh war mein Bruder innerhalb der PLO aufgestiegen. Die Bewegung hatte in Jordanien so viel Zuspruch gefunden, dass die haschemitische Monarchie um ihr eigenes Überleben fürchtete und die palästinensischen Guerillas und Zivilisten brutal niederschlagen ließ, in einem Monat, der als der »Schwarze September« in die Geschichte einging. 1971, als Jassir Arafat der PLO vorstand, trieb man sie in den Libanon, und mein Bruder wurde Lehrer an einer Schule, die das Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge der Lager von Sabra und Shatila aufgebaut hatte. Dort blieb er weiterhin ein Mitglied der palästinensischen Kämpfer.
»Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, ihn wiederzufinden. Ich erzähle dir alles ganz genau, wenn wir uns sehen. Yussuf vermisst dich schrecklich. Und ich auch, Liebes«, sagte Fatima.
Trotz der langen Jahre getrennt voneinander, trotz der Unsicherheit über Yussufs Aufenthaltsort und Fatimas Schicksal hatten sie sich fest an ihre Liebe geklammert und dem Druck widerstanden, sich andere Ehepartner zu suchen. 1977 schließlich, nachdem Yussuf mühevoll Erkundigungen eingeholt hatte, erfuhr er, dass seine geliebte Fatima nicht geheiratet hatte, und er schickte ihr einen Brief, der fast ein Jahr brauchte, um die knapp achtzig Kilometer durch Untergrundkanäle ins Dorf Barta’a zurückzulegen, wo Fatima noch immer bei ihrer Mutter lebte.
»Es war, als hätte Allah den Himmel geöffnet und mir diesen Brief an mein Herz geschickt«, schwärmte Fatima. An ihr
Herz, das sich so sehr nach meinem Bruder sehnte wie ein Mensch nach Luft zum Atmen. Innerhalb von drei Monaten waren die beiden wieder vereint und heirateten in Beirut. Fatima musste ihrer Familie und ihrem Land für immer Lebewohl sagen, denn wenn sie einmal ausreiste, würde Israel ihr nicht gestatten, in die besetzten Gebiete zurückzukehren. So gab sie alles auf, um meinen Bruder zu heiraten, und sie bereute es niemals. Er war vierunddreißig, sie zweiunddreißig.
»Schwesterchen, du musst herkommen, bevor Fatima dich zur Tante macht!«
»Wann ist es denn so weit?«
»Ungefähr Mitte Juni.«
»Jetzt haben wir Dezember. Dann kann ich ein paar Monate auf das Ticket sparen und meinen Masterabschluss machen.«
»Einen Masterabschluss? Baba wäre stolz auf dich.«
Selbst nach so vielen Jahren wollte ich unbedingt, dass mein Vater stolz auf mich wäre. Wo immer er auch war. Ich schaute aus dem Fenster und merkte, dass die Sonne gerade aufging. Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich sah, dass ein gleißender Lichtstrahl – Babas Lächeln – in mein Zimmer drang.
»Beeil dich und komm zu uns, Schwester. Wir vermissen dich.«
»Ich vermisse euch noch viel mehr. Ich komme bald.«
Yussuf gab mir eine Telefonnummer, die ich anrufen konnte, um ihm Nachrichten zu hinterlassen, zum Beispiel, wenn er mich zurückrufen sollte. Widerwillig legte ich auf.
Im Juni machte ich meinen Abschluss. Ich hatte nur einen Plan im Kopf: in den Libanon zu fahren. Seit Yussufs Anruf hatte ich nur noch
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