Während die Welt schlief
daran gedacht, zu meiner Familie zurückzukehren – und zu mir selbst. Aber ich hatte auch echte Freundschaften in Amerika geknüpft, und irgendwie war der Ort, den
ich während der letzten paar Jahre mein Zuhause genannt hatte, zu einem Teil von mir geworden. Als ich das Flugzeug bestieg, war ich traurig, weil ich meine Freunde zurücklassen musste, aber auch freudig gespannt auf die Dinge, die mich im Libanon erwarten würden. Ich hoffte, noch rechtzeitig anzukommen, bevor Fatima mich zur Tante machte.
TEIL 5
Qalbi fi Beirut
Mein Herz ist in Beirut
26
Majid
1981
E in Schwall heißer, trockener Luft hieß mich willkommen, als ich meinen Fuß auf libanesischen Boden setzte. Der internationale Flughafen von Beirut war ein beunruhigender Ort, denn hier gab es viel zu viele Waffen und viel zu viele Soldaten. Melodische Rufe auf Arabisch schwirrten hin und her, und die seidigen Kehllaute meiner Muttersprache kribbelten in mir. Arabisch ist wie Tanzen. Jemand bot einem Mann Tee an, als ich gerade durch den Metalldetektor ging. Er antwortete: »Gesegnet seien deine Hände«, und der erste Mann entgegnete: »Und deine Hände ebenso, möge Allah dich immer erhören.« Ein wahres Ballett von Höflichkeitsformeln.
Als ich endlich durch die Passkontrolle gelangt war, entdeckte ich einen großen, hageren Mann, der teilnahmslos ein Schild mit meinem Namen hochhielt. Seine dunklen Augen lagen unter buschigen Brauen. Auf seinen Wangen sprossen vereinzelte Haare, aus denen niemals ein Bart werden würde. Ein sorgfältig getrimmter Schnurrbart konnte seine vollen Lippen nur ungenügend verbergen. Als er mich sah, erkannte er mich und lächelte.
»Al-hamdu li-llah al-salamtak«, sagte er und reichte mir die Hand. »Mein Name ist Majid. Ihr Bruder hat mich gebeten, Sie abzuholen.«
»Möge Allah auch Sie beschützen«, entgegnete ich. Höflichkeitsformeln.
»Ich habe Sie sofort erkannt. Sie sehen genauso aus wie Yussuf.«
»Wir kommen nach unserer Mutter.«
Er lächelte und nahm mein Gepäck.
Im dichten Verkehr Beiruts ging es unter Hupkonzerten nur schrittweise voran. Fahrräder schossen zwischen Autos hindurch. Aber Majid steuerte völlig gelassen durch den Tumult und entschuldigte sich bei mir für die »üblen Ausdrücke«, die schnurrbärtige, gereizte Fahrer sich gegenseitig an den Kopf warfen. Arabische Schimpfwörter sind meist Anspielungen auf die weibliche Anatomie, bezogen auf Verwandte des Beschimpften. Oder einfach nur die bloße Nennung. »Fahr, du Idiot. Bei der Muschi deiner Mutter.« Oder: »Worauf wartest du, auf einen roten Teppich? Bei der Muschi deiner Schwester.« Und dann gibt es natürlich noch: »Verwünscht seien dein Vater und der Vater deines Vaters!«
Mitten im Getümmel verkauften Straßenhändler Zeitungen, Blumen und Süßigkeiten. Durchs Fenster zog der Duft von frisch gebackenem Brot herein – am Straßenrand erkannte ich Stände mit Kaak, dem libanesischen Sesamgebäck mit Thymian und Käse –, und sofort überfielen mich Erinnerungen an Palästina.
»Es tut gut, wieder auf arabischem Boden zu sein«, dachte ich laut.
»Man hat mir gesagt, Sie waren ziemlich lange fort«, sagte Majid nach einer kurzen Pause.
»Ja, ziemlich lange.«
»Entschuldigung, ich wollte nicht neugierig sein.«
»Das macht nichts. Ich bekam ein Stipendium und konnte nicht zurück nach Jenin. Sie wissen bestimmt, wie das ist, wenn man lange weg ist. Die Israelis lassen einen nicht mehr zurück. « Außerdem hatte ich nichts und niemanden, zu dem ich zurückkehren konnte. Und um ehrlich zu sein, wollte ich Amerikanerin sein. Ich sehnte mich danach, die Last der tragischen Vergangenheit abzulegen und Amy zu werden.
Um das Thema zu beenden, wandte ich mich ab und öffnete das Fenster. Ich wollte mehr von dem köstlichen Duft der Speisen an den Verkaufsständen inhalieren: Jibna, Za’atar und Kaak.
Majid rief etwas zum Fenster hinaus, und ein Händler, ein dünner, freundlicher alter Mann, brachte uns Kaak, in Zeitungspapier eingewickelt.
»Möge Allah dir ein langes Leben schenken, Haj«, sagte Majid und bezahlte.
»Und möge Er dir und deiner Familie Zufriedenheit schenken, mein Sohn«, entgegnete der alte Mann.
»Ich wette, Sie haben so etwas schon lange nicht mehr gegessen. « Majid reichte mir Kaak mit Jibna. Wieder dieses Lächeln.
Begeistert dankte ich Majid: »Gesegnet seien Ihre Hände. Sie sind aus Güte und Ritterlichkeit.«
»Ich habe doch gewusst, dass ich Sie irgendwie zum Lächeln bringen
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