Während die Welt schlief
kann.«
Majids zurückhaltende, höfliche Art hatte ich am Anfang nicht bemerkt. Zuerst hatte ich ihn für abweisend gehalten. »Meine Mutter und ich sind oft lange miteinander spazieren gegangen, als ich noch klein war. Ich habe sie jedes Mal dazu gebracht, mir eine von diesen Leckereien zu kaufen«, sagte er sanft in die Stille hinein. Ich hörte schweigend zu, weil ich seine Erinnerungen nicht durch Konversation zerstören oder den ruhigen Fluss seiner Stimme unterbrechen wollte.
Der zerbeulte kleine Fiat war eigentlich zu eng für Majids langen Körper. Sein Kopf war leicht nach unten gebeugt, und seine Knie hingen neben dem Lenkrad. Wir aßen in der sonnendurchfluteten Stille des Autos mit geschlossenen Fenstern. Hin und wieder hupten andere Fahrer wütend, weil wir so langsam dahinschlichen. Majid wurde rot, wenn er beim Schalten versehentlich mit der Hand mein Bein berührte.
»Entschuldigung, das tut mir sehr leid.«
»Das macht nichts.«
Etwas später nahm der Verkehr ab. Wir fuhren auf nur teilweise asphaltierten Straßen mit vielen Schlaglöchern.
»Warum ist Yussuf nicht selbst gekommen, um mich abzuholen? «
»Unglaublich, ich habe vergessen, es Ihnen zu erzählen!«, rief er und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Fatima hat ihr Baby bekommen. Sie haben eine Nichte!« Seine Augen waren weit geöffnet, wie man es häufig bei Menschen sieht, die gute Nachrichten überbringen. »Yussuf hatte sich einen Jungen gewünscht, aber er ist einfach so dahingeschmolzen, als er seine Tochter gesehen hat«, erzählte Majid.
Ich bin Tante!
»Wollen nicht alle arabischen Männer zuerst einen Sohn?«, scherzte ich. Inzwischen fühlte ich mich wohler mit Majid. Wir lachten.
»Eigentlich möchte ich gerne ein kleines Mädchen. Sara soll sie heißen, nach meiner Mutter, sie ruhe in Frieden. Aber im Grunde ist alles, was Allah uns schenkt, ein Segen«, antwortete Majid. Seine Stimme war wie Seide, sein Profil strahlte Gewissheit aus, und seine Präsenz gab mir Sicherheit. Er sieht aus wie Che Guevara.
Shatila war eins von drei Flüchtlingslagern in und um Beirut. Daneben befand sich das Lager Sabra, und beide ähnelten den Camps von Jenin: enge Betonlabyrinthe und Lehmhütten, die erst im Laufe der Zeit hochgezogen worden waren. Den Palästinensern, die während des Krieges 1948 geflohen waren, hatte man einfache Zelte gegeben, in denen sie unter unwürdigen Umständen hatten hausen müssen. In offenen Gräben flossen die Abwässer durch die Gassen, wo die Kinder spielten und Papierschiffchen schwimmen ließen.
Ich wusste, wir waren angekommen, als die Kinder sich um unseren Fiat drängten. Als ich klein war, hatten wir es genauso gemacht. Wir hatten es besonders auf die Besucher und die UNO-Inspektoren abgesehen gehabt, weil wir unbedingt vor ihren Fotoapparaten posieren wollten. Die Fotos bekamen wir natürlich nie zu sehen, aber wir rangelten trotzdem um die besten Plätze vor der Linse. Als ich die Kinder von Shatila sah, begriff ich, wie ich damals auf die Besucher gewirkt haben musste – verwahrlost und bedürftig. Damals waren wir aufgeregt, wenn Besucher kamen, und sonnten uns in ihrer westlichen Gunst. Wir sehnten uns nur nach ihrer Anerkennung, die sich für uns im Klicken ihrer Kameras, in einem Lächeln oder einer Frage ausdrückte – und manchmal auch in ein paar Süßigkeiten, die Huda und ich uns immer gerecht teilten.
Majid griff ins Handschuhfach und holte eine Handvoll Süßes heraus. »Ich habe einmal damit angefangen, und jetzt erwarten sie es immer von mir. Ich kriege richtig Ärger, wenn ich mit leeren Händen komme.«
Majid in der Mitte, aufgedrehte Kinder um ihn herum, die köstlichen Leckereien. Huda und ich hätten einen solchen Mann vergöttert. »Doktor Majid! Doktor Majid!«, riefen sie, und er sah in mein überraschtes Gesicht. Ich hatte ihn nicht für einen Akademiker gehalten. Ich hatte ihn mit Amys Augen
betrachtet – und das bemerkte er. Ich senkte den Blick. Mir war peinlich, dass er wusste, wie ich ihn zu Beginn eingeschätzt hatte.
Eine weiß strahlende Sonne folgte uns durch die müllübersäte Stadt bis zum Haus von Fatima und Yussuf. Es war ein einstöckiger Bau mit zwei verfallenen Stufen, die zur Haustür führten. Das Dach bestand wie bei den anderen Häusern aus Wellblech und Asbestplatten, die mit Steinen, alten Reifen und anderem Gerümpel beschwert waren. Vor dem Haus hatten sich ungefähr zwanzig Männer versammelt. Sie lachten, rauchten und
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