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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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keinen Fuß setzten, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit.
    »Du willst anscheinend umgebracht werden«, sagten meine Mitbewohner zu mir. »Du forderst dein Glück heraus, wenn du in dieser Gegend arbeitest.« Sie waren sich sicher, dass ich als Vergewaltigungsopfer enden oder man mich zumindest ausrauben würde. »Du kennst dich in diesem Land noch nicht gut genug aus. Ich bin kein Rassist. Aber das ist einfach ein gefährlicher Ort.«

    Trotz allem setzte ich mich jeden Freitag auf mein Fahrrad, glitt durch die hektische Broad Street, bog rechts ab zu den feinen Häusern an der Spruce und fuhr bis ins verfallene West Philly. Die unbegrenzten Möglichkeiten machten einen großen Bogen um die 13. Straße, und die Freiheit für alle lümmelte sich im Stuhl wie ein fauler Schüler. In West Philly hatten sich die Natur und die Architektur mit dem Geist der Sklaverei zusammengetan. Müll und Urin waren dort, wo einst die Büsche geblüht hatten. Junge Männer mit Schlaghosen und Afros lungerten herum. Zu Beginn pfiffen sie mir hinterher, riefen mich »Mama« und ließen sich anzüglich über mein Hinterteil aus. Aber als sich mein Gesicht allmählich in die Landschaft einfügte, riefen sie mich bei meinem Namen, wobei nur noch die Melodie ihrer Sprache pfiff, und sie ließen sich anerkennend über mein Hinterteil aus – sie hießen mich in ihrer Welt willkommen. Alte Frauen, ehrwürdige Matriarchinnen, hielten Pläusche vor ihren Häusern und wachten über die Nachbarschaft, so gut sie konnten. Auch sie hörten irgendwann auf, mich misstrauisch anzustarren, und lächelten wohlwollend, wenn sie mich entdeckten. Kleine Mädchen mit artigen Flechtfrisuren hüpften unter zwei großen Springseilen durch – ich war beeindruckt von ihrer unglaublichen Koordinationsfähigkeit. Mir schien, alles, was die Schwarzen taten, taten sie mit Rhythmus. Ich lernte, dass ihre versklavte Kultur den Rock ’n’ Roll hervorgebracht hatte. Sie waren eine gekidnappte Rasse, die die Kultur eines ganzen Landes durch ihre Musik definierte.
    Manchmal gab es Tote und Überfälle. Ich sah Drogendealer und Zuhälter. Vielleicht war ich naiv, aber mir war nicht bange in der Dunkelheit von West Philly. Die Soldaten in meinem Leben hatten meine Angstschwelle ziemlich in die Höhe getrieben. Die verschreckten Teenager, die eines Abends mit einer Pistole bewaffnet in den Laden stürmten und vierzig
Dollar erbeuteten, schreckten mich darum nicht im Geringsten.
    Sie waren zu dritt und kamen eine halbe Stunde nach Mitternacht an einem Samstag. Zusammen betraten sie den Laden, und ihr hastig gefasster Plan stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Drei Kunden waren im Raum. Bo Bo, der Inhaber, war erst vor einer Stunde gegangen. Zwei der Jungs postierten sich in verschiedenen Ecken des Ladens, und der dritte stellte sich in die Schlange vor der Kasse, die ich betreute. Ich wusste, dass etwas faul war, und dachte an Bo Bos Anweisungen, als ich den Schein des Kunden entgegennahm. »Wenn du je überfallen wirst, gib ihnen einfach das Geld, versuch nicht, irgendwas zurückzuhalten«, hatte er mir eingeschärft, als ich vor einem Jahr bei ihm angefangen hatte. Der junge Räuber legte zwei Päckchen Minz-Kaugummi und eine Flasche Coca-Cola auf die Theke vor mir, gefolgt von einer 9mm-Pistole. Dann verlangte er Geld. Seine Augen waren angstgeweitet, und seine dunkle Haut sah jugendlich straff aus. Die anderen beiden waren damit beschäftigt, die Regale zu plündern und die Tür zu blockieren. Mir fiel die Ironie auf: Der Junge hatte Angst, während ich ganz ruhig blieb. Als ich den Inhalt der Registrierkasse in eine braune Papiertüte kippte, fragte ich mich, warum um alles in der Welt ich Schrecken empfinden sollte. Die Pistole des Jungen war ein Spielzeug im Vergleich zu M-16-Sturmgewehren. »Du! Bleib stehen!« Ein M-16 in meinem Gesicht. »Alle umkehren. Das ist jetzt eine gesperrte Militärzone.« Ein M-16, das vor der Menge hin und her schwingt und vielleicht ein paar Mal in die Luft schießt, wenn wir uns nicht schnell genug bewegen.
    Nachdem ich dem Jungen das ganze Geld gegeben hatte, zeigte ich ihm noch eine gut versteckte Kleingeldkasse, wo er und seine Freunde weitere dreißig Dollar finden konnten.
Dann reichte ich ihm noch eine Schachtel Zigaretten. »Ich rauche nicht«, stammelte er verblüfft.
    Sie verließen den Laden. Ich rief Bo Bo an, nicht die Polizei. Am folgenden Wochenende kam Bo Bo in den Laden, mit einem Jungen, den er am Kragen

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