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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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lebte ohne Soldaten, ohne Märtyrer und ohne die geerbten Träume meines Volkes.
    Ich verwandelte mich in eine unbekannte Hybridenart, halb arabisch, halb westlich, ohne Wurzeln, unabhängig. Ich trank Alkohol und ging mit mehreren Männern aus – dafür hätte man mich in Jenin verstoßen. Munter wanderte ich zwischen den Kulturen hin und her, bis ich mich verirrte. Ich verliebte mich in Amerikaner und erlebte sogar, dass diese Liebe erwidert wurde. Ich lebte im Hier und Jetzt und verdrängte die Vergangenheit. Ich schrieb weder an Huda noch an Muna oder an die kolumbianischen Schwestern. Ich schrieb auch nicht an Ammu Darwish, Lamya, Khaltu Bahiya oder Haj Salim. Hin und wieder spürte ich allerdings das schlechte Gewissen. Einmal, als ich in der Stadt unterwegs war, glaubte ich, meine Mutter zu sehen – ein Geist, der durch mein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe huschte. Ich erstarrte und betrachtete die Tochter meiner Mutter. Dalia, Umm Yussuf, hatte mir den Wesenszug vererbt, die Vergangenheit nur durch den Spiegel der Traurigkeit sehen zu können. Sie hatte jedoch die Fähigkeit besessen, die Gegenwart davon abzuspalten. Ich dagegen brauchte die geografische Entfernung, um mich von der Vergangenheit lösen zu können. In diesem Augenblick dachte ich, dass mich wahrscheinlich keine Menschenseele je so gut würde verstehen können wie sie.

    In meinem Leben in Amerika schwang stets eine Art Schamgefühl darüber mit, meine Familie verraten zu haben – und schlimmer noch, mich selbst. Aber ich passte mich immer besser den amerikanischen Sitten an und übernahm auch alle Freiheiten.
    Doch es gab Momente, in denen ich gezwungen war, den Graben wahrzunehmen, der mich von meinen Mitmenschen trennte. Als wir das Abwasserproblem hatten, das unserem Haus den Spitznamen gab, musste ich inmitten des Chaos an Jenin denken, wo die offenen Abwasserkanäle manchmal übergelaufen waren. Wir hatten dann in aller Eile alte Kleider und Handtücher zusammengesucht und in die Abflüsse unserer Behausungen gestopft. So widerwärtig das damals war, so aufregend war es auch für Huda und mich, denn wir durften ausnahmsweise auf dem Dach schlafen, um dem scheußlichen Gestank zu entkommen. Die anderen Kinder machten es uns nach, und bald schwirrten unsere Rufe, unsere Witze und unser Kichern durch die Luft. Wir Flüchtlingskinder waren damals auf naive Weise voller Träume und Hoffnungen. Wir waren uns zum Glück nicht bewusst, dass wir menschlicher Abschaum waren, den man durch sein eigenes Leid und seine eigenen Exkremente waten ließ. Dort, auf den Flachdächern, schickten wir unsere Wünsche und Geheimnisse in den Sternenhimmel des Mittelmeers. Damals gab es noch keine Soldaten, denn es war vor dem Krieg von 1967. Unsere Bedürfnisse waren bescheiden, aber kaum realistisch. Wir dachten unentwegt daran, nach Ein Hod zurückzukehren, denn wir hielten es für das Paradies. Die unbeschwerten Nächte auf dem Dach waren voller Unschuld. Huda und ich hüllten uns in den abendlichen Gebetsruf ein und schliefen in kindlicher Umarmung, bis es wieder hell wurde und Baba mir aus einem Buch vorlas. Die stinkende Brühe in den Gassen, die im Sonnenlicht glänzte,
war in unseren Augen nur eine zeitweilige Unannehmlichkeit, die uns zu vergnüglichen Fluchten einlud.
    Während meine Freunde in Philadelphia also panisch telefonierten, mit ihren Eltern, dem Vermieter, der Gesundheitsbehörde und den Versicherungen, blieb ich völlig ungerührt. Sie führten sich auf, als würde die Welt in Exkrementen untergehen, aber ich wurde ganz nostalgisch und dachte sehnsüchtig an meine alten Freunde.
    Der Graben zwischen uns hätte kaum tiefer sein können, und er konnte auch nicht überbrückt werden. So war es nun mal. Palästina brach einfach aus mir hervor und drängte sich ohne Vorwarnung in mein neues Leben – im Unterricht, in der Bar oder auf einem Spaziergang durch die Stadt. Plötzlich verwandelten sich die Trauerweiden am Rittenhouse Square in die Feigenbäume von Jenin, die sich zu mir herunterbeugten und mir ihre Früchte anboten. Es war, als ginge von meinen Körperzellen ein ständiger Sog aus, der mich zu mir selbst zurückzog. Irgendwann ließ er dann nach und wartete auf die nächste Gelegenheit.
    Während des Studiums hatte ich zwei Nebenjobs. Die Universität stellte mich als Tutorin ein, und »inoffiziell« arbeitete ich in einem Rund-um-die-Uhr-Laden in West Philly, einem »schlechten« Viertel, in das die Weißen normalerweise

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