Während ich schlief
ein tropfenförmiges Prisma. Es fing das späte Nachmittagslicht ein und streute es als tausend winzige Regenbogen durchs Zimmer. Meine Tränen versiegten, ehe sie flossen. Ich ging zu dem Prisma und stupste es leicht an, ließ die Regenbogen um mich herumtanzen.
Das half ein bisschen gegen den Kummer. Jemand hatte es dort für mich aufgehängt, speziell für mich. Vermutlich Mrs. Sabah. Es wirkte auf mich wie ein Kuss. Dieses Zimmer war nicht nur ein exhumierter Leichnam aus meinem alten Leben. Es war ein Geschenk. Von Guillory oder Mrs. Sabah oder gar den Innenausstattern, egal. Es war nett gemeint. Was bedeutete ... ja, was? Dass ich nicht allein war?
Mich erwartete noch ein Geschenk auf der anderen Seite des Flurs, mit dem ich nie gerechnet hätte. Ein Traum aus einem anderen Leben, der in diesem plötzlich wahr wurde.
Es war ein Atelier.
Nicht einfach irgendein Arbeitsraum, sondern ein komplett ausgestattetes Maleraltelier, mit einer Werkspüle und Bechern voller Pinsel. Ein Bücherregal stand darin, vom Boden bis zur Decke gefüllt mit Kunstbüchern. Bücher über Techniken, Stile, Kunstgeschichte, von den altägyptischen Skulpturen bis hin zum Neodadaismus. Ein Trockengestell für Gemälde, daneben die streng geometrischen Linien einer Werkbank mit einer Papierschneidemaschine für Passepartouts oder Collagen sowie Gerätschaften, mit denen ich selbst Leinwände auf Keilrahmen aufziehen konnte. Die Schubladenschränke unter den Fenstern enthielten bunte Kreiden, Zeichenkohle und
alles Nötige zum Mischen von Farben, eine stattliche Reihe von nagelneuen Farbstiften und Bogen über Bogen von Papier, angefangen von schwarzem Karton für die Kreiden bis hin zu Blocks mit grobem Aquarellpapier. Ein ganzes Spektrum von Aquarellfarben. Eine Ansammlung von Töpfchen mit Acrylfarben. Und das Beste von allem: eine ganze große Schublade voller Ölfarben, leuchtend und neu und unangebrochen, die nur auf mich warteten. In einer weiteren Schublade lagen noch mehr Pinsel und Malmesser und Paletten und alles, was mein Herz begehrte.
Ich konnte Meisterwerke schaffen in diesem Raum. Es gab zwei Staffeleien und einen Zeichentisch mit einer Lichtleiste für nächtliches Arbeiten. Dahinter, vor der Wand, bewegten sich in einem enormen Aquarium mit tropischen Fischen die Malfarben in Bewegung. Es war ein Traum. Eine Vision. Der geheimste meiner geheimen Wünsche, das Eine, das ich nie hatte haben können. Allein der Anblick ließ meine dunkle, unergründliche Zukunft ein bisschen heller erscheinen.
Am schlimmsten war es immer, wenn ich an mein altes Leben dachte. Wie Mom mit mir Mittagessen gegangen war, wie Daddy mir im Vorbeigehen durch die Haare gewuschelt hatte, meist auf dem Weg in sein Arbeitszimmer – genau der Raum, in dem sich jetzt mein Atelier befand. Ich vermisste Åsa, die mir Earl-Grey-Tee gemacht hatte und knappe Komplimente mit ihrem melodischen schwedischen Akzent, etwa über meine neuesten Bilder oder das Ergebnis einer Klassenarbeit.
Und ich vermisste Xavier. Dieser Schmerz war wie ein beständiges dumpfes Dröhnen, wie das Rollen des Ozeans, der manchmal über mich hinwegbrandete, sodass ich fast ertrank. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne ihn zurechtkommen sollte. Tief drinnen wusste ich, dass ich es verkraften konnte, meine Mutter und meinen Vater verloren zu haben und
die Welt, in die ich hineingeboren worden war, wenn mir nur Xavier wiedergegeben würde, mein Xavier.
Noch im Krankenhaus hatte ich seinen Namen ins Netz eingetippt, nur für den Fall, dass er durch ein Wunder noch am Leben war – ohne zu wissen, was ich dann tun würde. Doch es überraschte mich nicht, dass der Name keinen Treffer in den aktuellen Einwohnerverzeichnissen ergab. Würde er noch leben, hätte er mich schließlich schon vor Jahrzehnten aus der Stasis geholt. Ich grub nicht weiter in der Vergangenheit; ich wollte nicht wissen, wie er gestorben war. Auch über den Tod von Mom und Dad wollte ich nichts Genaueres erfahren. Wahrscheinlich waren sie alle in dieser Dunklen Epoche umgekommen, über die ich mich immer noch nicht schlaugemacht hatte. Solange ich nicht wusste, wie es passiert war, konnte ich so tun, als lebten sie noch, wenn auch nur in meiner Fantasie.
Ihr aller Tod betrübte mich, aber meine Liebe zu Xavier war nach wie vor so heftig und schmerzhaft wie eine Klinge, die mich aufschlitzte. Meine Freundschaft mit ihm war immer schon problematisch gewesen, immer schon intensiv genug, um zu verletzen. Schon als
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