Während ich schlief
immer.«
»Einverstanden.« Ich streifte sein zartes Kindergesicht mit der Wange. »Für immer und immer.«
Ich war selbst noch ein Kind und verstand nicht, wie sehr ich ihn belog. Nun hatte ich zweiundsechzig Jahre lang geschlafen und jeden einzelnen seiner Geburtstage verpasst.
Barry und Patty bekamen mich in diesen ersten Wochen kaum zu Gesicht. Ich war nicht wirklich vorhanden. Meine Welt schrumpfte auf mein Bett und mein Atelier zusammen. Ich skizzierte Gesichter aus dem Gedächtnis, vor allem das von Xavier, und malte komplexe Landschaften. Wegen der Stasis-Erschöpfung arbeitete ich sehr langsam und wurde schnell müde, aber ich stellte bald fest, dass ich tatsächlich besser geworden war während meines langen Schlafs. Meine Kunst war das Einzige, was mich wirklich interessierte. Ich erschien zu den Mahlzeiten, wenn Barry und Patty es wollten, trottete los, um Unterwäsche zu kaufen, als Patty mich dazu aufforderte, und räumte meine Schmutzwäsche weg, weil es von mir erwartet wurde. Und als Barry verkündete, dass ich einen Termin bei einer Psychologin hätte, stieg ich gehorsam in den Solargleiter und ließ mich von ihm zu ihrer Praxis in der Stadt fahren.
»Diese erste Sitzung können wir ganz formlos halten«, sagte
die Psychologin, nachdem ich auf ihrem bequemen Sofa Platz genommen hatte. »Uns einfach ein bisschen kennenlernen. Haben deine Pflegeeltern dir schon etwas über mich erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Mir wurde nur gesagt, dass ich einen Termin habe.«
»Aha.« Dr. Bija nahm ihren Notescreen und tippte ein paarmal darauf. Ich übte immer noch, mit meinem zurechtzukommen. Touchscreen-Computer kannte ich natürlich, aber diese biegsamen Dinger, die man in der Hand hielt und die sich für Notebooks ausgaben, waren neu für mich. Es war schon ganz nett, dass man sie quer durchs Zimmer schleudern, sich versehentlich daraufsetzen oder dicke Bücher darauf stapeln konnte und sie trotzdem weiter funktionierten. Man hatte Zugang zum Netz und erledigte sämtliche Schularbeiten damit, aber für meine Begriffe waren es keine richtigen Notebooks.
Meine Psychologin war Mitte vierzig, hatte dichte, schwarze Haare, an den Schläfen ergraut, und eine Haut in einem warmen Braunton. Sie trug einen schicken Leinenanzug. Ihr voller Name war Mina Bija. »Bi-dscha«, wie Barry es mir vorgesprochen hatte. Er hatte mich vor einem der Hunderten von neuen Gebäuden abgesetzt, die während meiner sechzigjährigen Stasis in ComUnity hochgezogen worden waren. Ich wollte nicht zum Psychologen, aber Barry versicherte mir, dass die Besuche mir nur helfen sollten, mich zu integrieren. Mein Verdacht war eher, dass Guillory mich ausspionieren wollte, doch es stand mir nicht zu, mich zu widersetzen.
»Du bist also Rosalinda. Möchtest du lieber Rose genannt werden oder sonst wie?«
»Rose ist gut«, sagte ich, überrascht, dass sie fragte. Guillory nannte mich immer noch ganz förmlich Rosalinda, als hätte ich etwas angestellt.
»Du kannst gern Mina zu mir sagen. Du wurdest von Mr. Guillory an mich verwiesen, ja?«
»Ich glaube schon.«
»Ich habe dich natürlich vor einem Monat in den Nachrichten gesehen. Warst du schon irgendwann einmal in psychologischer Behandlung?«
»Nein. Ich habe einen Physiotherapeuten, zu dem ich regelmäßig gehe, aber einen Psychotherapeuten hatte ich noch nie.«
»Dann bin ich also deine erste, was?« Sie grinste selbstironisch, was mir half, ein bisschen lockerer zu werden. »Okay, um eines gleich klarzustellen: Du sollst wissen, dass ich für UniCorp arbeite, und zwar hier an der Uni Prep.« Ich sah mich in ihrem Büro um. Mir war nicht klar gewesen, dass wir uns in meiner neuen Schule befanden. »Wie ich höre, wirst du demnächst hier anfangen?«
»Am Montag«, sagte ich.
»So bald schon? Das ist bestimmt beängstigend.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Nicht beängstigender als alles andere.«
Ihre Miene wurde teilnahmsvoll. »Ja, du hast einen gewaltigen Schock erlitten.«
Ich rutschte unruhig hin und her. »Ich weiß nicht, ob ich darüber reden möchte.«
»Schon gut. Reden wir über die Schule. Was hältst du davon, dass man dich hier in Uni Prep angemeldet hat? Meinst du, du bist schon bereit, wieder zur Schule zu gehen?«
»Ich weiß nicht. Glaub schon.«
»Keinerlei Bedenken?«, bohrte Mina nach. »Du wirst sechzig Jahre technologische Entwicklung und Geschichte nachholen müssen.«
»Ich bezweifele, dass ich einen großen Unterschied bemerken
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