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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Überblick darüber zu geben, welche Reclam-Bücher ihren Weg dieses Jahr pflastern würden, hatte sie ein schwülstiges Gedicht über Tod und Leben ausgegraben und rezitierte es fünf Mal, bis ihr die Stimme versagte.
    Karla war nicht erschienen. Es war nicht herauszubekommen, ob sie von der Schule gehen wollte oder sich nur den ersten Schultag geschenkt hatte. Harald hatte während der letzten Woche einige Male versucht, sie zu erreichen, doch unter ihrer alten Nummer war niemand rangegangen. Er hatte auch an ihrer Wohnungstür geklingelt. Offenbar war sie nicht da. Er vermutete, dass sie zu ihrer Mutter gezogen war, mindestens vorübergehend, um die Frau über den Tod ihres Mannes hinwegzutrösten. Eigentlich hatte Karla nichts mehr von ihrer Mutter wissen wollen, einer hysterischen Frau, die ihre Tochter unablässig beschimpfte, aber in dieser Ausnahmesituation hatten sie die Vergangenheit vielleicht begraben.
    Einige der Mitschüler taten so, als könnten sie sich kaum mehr an sie erinnern. Dass er nicht lachte! Im letzten Schuljahr war Karla das Mädchen gewesen, das während der Stunde am meisten Blicke erntete – bewundernde von den Jungen, neidische von den Mädchen. Karlas Körper war ein fleischgewordener Männertraum. Ihre Brüste waren einfach riesig und trotzdem fest und perfekt geformt, und wenn sie durch die Schule lief, bekamen manche Leute Gleichgewichtsstörungen.
    Falls sie in diesem Moment durch die Tür kam, würde man dann bereitwillig vergessen, dass ihr geisteskranker Vater vor drei Wochen zum Mörder geworden war und sich danach selbst umgebracht hatte? Bestimmte Arten von Wahnsinn konnten sich vererben, und vielleicht war sie unter diesem Gesichtspunkt ja doch nicht das ideale Date …
    Der Vormittag zog sich in die Länge. Johannes saß auch dieses Jahr in der ersten Reihe und Harald in der letzten. Jo hatte darum gebeten, eine Schweigeminute im Andenken an Gina einzulegen, und Harald nutzte die Zeit in unverschämter Weise, um nach draußen zu gehen und eine Zigarette zu rauchen.
    „Du bist das Letzte“, sagte Johannes angriffslustig, als der Junge ins Klassenzimmer zurückkehrte und nach Rauch stinkend an ihm vorüberging.
    „Was denn?“, maulte dieser. „Ich habe sozusagen eine Kerze für sie angezündet.“ Harald trauerte mindestens ebenso um Gina wie Jo, aber er hasste es, sich vorschreiben zu lassen, wann er betroffen zu sein hatte, wann er eine traurige Miene ziehen musste und wann er einen Witz reißen durfte.
    An diesem Tag lief so vieles schief. Den Vogel schoss in der vierten Stunde der Religionslehrer ab, ein ziemlich verwirrter junger Mann mit langen Haaren, der sommers wie winters denselben Rollkragenpulli trug. Natürlich versuchte er in seiner pastoralen, unerträglich süßlichen Art ein Gespräch über den Tod in Gang zu bringen, und möglicherweise wäre es ihm sogar gelungen, hätte er in seiner Betroffenheit nicht unablässig Gina und Karla miteinander verwechselt und so getan, als wäre es die letztere, die nicht mehr unter ihnen weilte.
    „Karla lebt“, sagte Harald in einer dieser Situationen. „Und da Sie kein Voodoo-Doktor sind, werden Sie es nicht schaffen, sie umzubringen, indem Sie permanent das Gegenteil behaupten.“
    Der junge Religionslehrer wurde rot und zog sich an den langen blonden Haaren, dass man es kaum mit ansehen konnte. Er griff nach seiner schlecht gestimmten Gitarre und stimmte ein Lied an. Der Refrain bestand aus einem so endlosen „Hu-hu-hu“, dass man die letzte Strophe vergessen hatte, wenn die nächste begann.
    Harald lehnte sich zurück und blickte an die Decke.
    Sie war weiß gestrichen und wies ein einfaches Relief auf, ein Rechteck mit abgerundeten Ecken. Auf diese Form konzentrierte er sich, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie sich bewegte. Vor Schreck wäre er beinahe von seinem Stuhl gefallen. Als er sich wieder fing, sah die Hälfte der Klasse nach oben, und der Lehrer hätte es zweifellos auch getan, wäre er nicht davon in Anspruch genommen gewesen, seine Akkorde zu greifen.
    „Was ist das?“, flüsterte eines der Mädchen.
    Was bedeutete, dass sie es auch sah.
    Die Decke wölbte sich ein wenig zu ihnen herab. Eine Art Membran schien über dem Verputz zu liegen, und diese Haut teilte sich nun in der Mitte und öffnete sich. Es war, als öffne sich ein riesiges Auge, doch was hinter der Membran zum Vorschein kam, war nur eine weitere Version der Decke, weiß und steril. Die Haut verschwand, wurde von dem

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