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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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war riesig.

5
    Die Fünfzehnjährige rannte, so schnell sie konnte. Sie zitterte am ganzen Körper. Ohne dass etwas geschehen wäre, hatte die Angst sie übermannt. Die Atmosphäre war nicht so, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Sie war ein empfindsames Mädchen, von zarter, zerbrechlicher Statur und mit feinen Zügen. Sie spürte solche Dinge. Sie spürte, wenn ein Besuch unmittelbar bevorstand, wenn sich eine schlechte Nachricht ankündigte, wenn Krankheiten oder andere Probleme sich anbahnten.
    Heute war es besonders deutlich. Der Äther hatte sich verändert, die Luft, die sie atmete, war nicht mehr dieselbe wie zuvor. Sie verstand jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es sich anfühlen musste, wenn Tiere ein Erdbeben oder einen schlimmen Sturm vorherahnten. Es war ein überwältigendes Gefühl, umso bedrohlicher, als man es nicht in Worte fassen konnte.
    Schlimm war, dass es sie vor dem Feuer ebenso graute wie vor der Dunkelheit. Das Feuer rief etwas herbei, und dieses kam durch die Dunkelheit heran. Lief sie ins Dunkle, rannte sie ihm gleich in die Arme, wartete sie dagegen beim Feuer, würde sie ein wenig später davon eingekreist und zermalmt werden.
    Ihre Füße verfingen sich an einer der niedrigen Hecken, und sie stürzte. Als sie den Blick nach oben richtete, sah sie zum ersten Mal etwas von dem Fremden, das sie schon die ganze Zeit über spürte.
    Es waren Reflektionen in der Nachtluft, ein kaum sichtbares Flirren, als breche sich das schwache Licht der Sterne an winzigen Fäden. In östlicher und nördlicher Richtung spannte sich ein Gespinst über den Himmel, an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Sirrende Geräusche begleiteten die Erscheinung.
    Sie rappelte sich auf und ging mutig auf das Unbekannte zu. Jetzt umzukehren, ohne zu wissen, was es mit dem wabernden Netz auf sich hatte, wäre töricht gewesen. Sie musste es berühren, auf die Gefahr hin, dass es sie tötete. Denn es näherte sich ihnen von allen Seiten – da war sie ganz sicher. Vielleicht brachen die anderen das Ritual ab, wenn sie starb oder verletzt wurde.
    Sie musste ein Zeichen setzen. Etwas musste geschehen.
    Ihre Mutter rannte hinter ihr her, doch sie war zu langsam, um sie aufzuhalten.
    Die Fünfzehnjährige sah für ein paar Sekunden auf den Boden, um nicht erneut zu straucheln. Als sie ihren Blick hob, war das schwach leuchtende Gespinst direkt vor ihren Augen. Selbst wenn sie es sich jetzt anders überlegt hätte – sie hätte den Kontakt nicht mehr verhindern können.
    Sie tauchte in das Netz ein, spürte einen Herzschlag lang eine Spannung auf ihrem Körper, als würde sich ihre Haut straffen, jemand leicht an ihren Haaren und Kleidern ziehen, hörte einen Harfenklang … dann war es vorüber. Sie war durch, lief weiter.
    Doch die Welt hinter dem Netz war nicht mehr die ihre.
    Obwohl die Kulisse sich nicht geändert hatte, obwohl sie die Erde und das Gras noch immer unter den Füßen spürte und den Sternenhimmel über sich hatte, kam ihr diese Welt fremd vor. Sie war bevölkert von schwarzen, schattenartigen Wesen mit großen, gehörnten Köpfen. Die Geschöpfe schienen sich nicht zu bewegen, waren wie Statuen, solange zumindest, bis sie verschwanden und sofort wieder auftauchten, an einem anderen Ort, in anderer Haltung. Es war, als blicke man auf eine von einem Stroboskop beleuchtete Szene.
    Das Mädchen ließ sich fallen. Das nasse Gras tat ihr gut, erfrischte sie. Sie schloss die Augen und wünschte sich, dies alles würde verschwinden. Jemand berührte sie, und zuerst stieß sie einen gellenden Schrei aus, doch dann erkannte sie, dass es ihre Mutter war. Die Frau mit den langen, bereits ergrauten Haaren kniete neben ihr und versuchte sie zu umarmen. Das Mädchen ließ es zu.
    „Siehst du sie auch?“, fragte die Fünfzehnjährige unter Tränen. Ihre Mutter erwiderte nichts, doch ihr Kopf, den sie an den ihrer Tochter drückte, nickte.
    „Was haben wir gerufen?“, schluchzte das Mädchen. „Was ist das? Das sind nicht die Toten. Das können nicht unsere Ahnen sein …“ Ihre Worte wurden zu einem unverständlichen Wimmern, und während ihre Mutter schützend die Arme um sie legte, hob sie noch einmal den Kopf und sah hinaus in diese fremde Welt.
    Die Schatten rückten heran, doch sie kümmerten sich nicht um die beiden Frauen. Sie bewegten sich an den Menschen vorüber, interessierten sich nicht für sie. Das Netz schloss sich immer enger um das Feuer, und die Dunklen folgten ihm. Hinter den Schatten aber gab es

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