Wände leben - Samhain - Ferner Donner
noch etwas.
Ein vibrierendes, wirbelndes, zuckendes Chaos, eine Art gigantischer Maschinerie, ein Wand aus Millionen von ineinandergreifenden, interagierenden Teilen, von denen keines wie das andere aussah. Ein riesiger, hässlicher Moloch von einem Gott – oder eine Apparatur, wie sie kein lebender Mensch jemals geschaffen haben konnte.
Die Fünfzehnjährige riss ihre Mutter hoch. Sie hatte den Schneid gehabt, sich dem Netz entgegenzustellen, und sie hatte gesehen, dass die Schatten nichts von ihnen wollten. Doch ehe sie zuließ, dass dieses monströse Etwas, das den Dunklen folgte, sie überrollte und zermalmte, suchte sie ihr Heil lieber in der Flucht.
Die beiden Frauen hasteten zurück auf das Feuer zu. Dabei hielten sich Mutter und Tochter fest an den Händen, als hätten sie einen Schwur geleistet, sich niemals mehr loszulassen.
6
Eine Gestalt kam Sir Darren entgegen. Der Mann trug einen Umhang in buntem Karomuster, wie er einst typisch für die Kelten und auch ihre Priester gewesen war. Hier meinte es jemand ernst und hielt sich an die historischen Tatsachen, anstatt sich in weiße Roben zu kleiden, wie höchstens die Römer und Griechen sie getragen hatten.
Der Druide hielt einen Stab in der Rechten und einen Kelch in der Linken, die Symbole für Feuer und Wasser. „Halt!“, schrie er. „Sie können hier nicht weiter! Sie stören eine Feier!“
„Stoppen Sie das Ritual!“, rief ihm Sir Darren zu.
Der Druide antwortete ohne Zögern: „Wir haben eine Erlaubnis. Wir bewegen uns im Rahmen der Gesetze.“
„Das will ich Ihnen … gern glauben“, keuchte Sir Darren. Endlich hatten sie einander erreicht. Der Druide hob den Holzstab und hielt sein Gegenüber damit auf Distanz.
„Was wollen Sie hier?“, fragte der Neukelte. Einige seiner Anhänger kamen nun auch herbei – eine kleine, hagere Frau schleppte beidhändig das Schwert mit sich und sah dabei irgendwie lächerlich aus.
„Hören Sie“, sagte Sir Darren schwer atmend. „Ich persönlich habe nichts gegen das, was Sie hier tun. Da unten“ – er wies zur Senke hinüber, deren Inhalt von hier aus vollkommen unsichtbar war – „befindet sich ein alter Friedhof. Vermutlich wissen Sie das schon. Ich habe eine … Warnung erhalten, aus dem Jenseits. Es ist gefährlich, das Ritual fortzusetzen. Beenden Sie es, solange das noch möglich ist!“
„Ein Friedhof?“, wiederholte der Druide ungläubig.
„Sie sind nicht deswegen hier?“
„Nein, ich …“ Der Priester ließ den Stab sinken, als er erkannte, dass Sir Darren ihn nicht zu attackieren beabsichtigte. „Ich habe starke Energien in dieser Gegend gespürt, aber …“
„Das war das Gräberfeld. Sie feiern hier Samhain, nicht wahr? Sie rufen die Toten. Ich glaube, die Toten wollen nicht gerufen werden.“
Der Druide überwand seine Verwirrung rasch. Er war es wohl gewohnt, sich verbal zur Wehr zu setzen. „Wer sind Sie, dass Sie beurteilen können, was die Toten wollen und was nicht? Falls sie uns mit Satanisten verwechseln: Wir führen keine Beschwörung durch. Wir ehren unsere Ahnen, indem wie sie bitten, sich in unserer Mitte zu vergnügen. Das mag in Ihrem Glauben ja eine …“ Er unterbrach sich. Offenbar fiel ihm jetzt erst auf, in welchem Zustand sein Gegenüber sich befand. Die verletzte Hand, und mehr noch: das blutgetränkte Hemd.
„Ich fürchte, wir werden nicht die Zeit haben, Einzelheiten zu diskutieren“, sagte Sir Darren und riss sich das Hemd vom Leib. Auch im unsteten Licht des entfernten Feuers musste die Schrift auf seiner Brust zu erkennen sein. „Eine Gefahr braut sich zusammen, und falls wir sie noch abwenden wollen …“
Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Hinter ihm explodierte etwas. Nicht körperlich und auch völlig lautlos. Und trotzdem war die Druckwelle zu spüren, irgendwie, innerlich. Sir Darren wandte sich um.
Und schien in eine andere Welt zu blicken.
Dort, wo sich die Senke befand, herrschte ein milchiger, weißer Sturm, wie von dichtem Rauch oder Nebel. Ein seltsames Licht drang durch einen Spalt aus einer anderen Dimension herein, kalt und aggressiv, wie Blitze, die zwischen mehreren Spiegeln hin und her geworfen wurden. Der Spalt drehte sich, war einmal vertikal, dann wieder waagrecht. Gesichter erschienen im Nebel, tanzten durch das Licht, Körper, verzerrt und grotesk.
Hinter der Senke flammte eine Art Netz auf. Die Wesen im Nebel schienen davon angezogen zu werden, zerfaserten und rasten darauf zu. Wo sie es berührten,
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