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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Baumwolle   – und ihren Mund an seinen Hals presste und sagte: »Ist schon gut, Jacko, ist schongut.« Und was sollte das bedeuten   – dass es gut war, wenn ein erwachsener Mann weinte? Als ihm die heißen Tränen aus den Augen schossen   – es ging nicht anders   – aus den Luxton-Augen, steingrau und, meistens jedenfalls, kühl und ausdruckslos wie die seines Vaters. Ja, Menschen waren eben keine Rinder.

10
    Der Regen strömt an der Fensterscheibe hinunter, aber jetzt weint Jack nicht. Und auch an jenem grauen Morgen hatte er schon bald den Fluss der Tränen gestoppt. Er hatte sie zurück in sein Inneres gezogen und war sich mit dem Ärmel über das Gesicht gefahren, bevor Ellie ihm eine Handvoll Papiertaschentücher reichen konnte.
    Damals hätte es so schütten sollen, dachte er. Dann hätte das Wetter die Tränen weniger auffällig gemacht, oder es hätte das Weinen für ihn besorgt. Aber der Morgen war einfach grau und still und dabei feucht gewesen.
    Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte, außer früher, als er klein und Weinen erlaubt war. Ob er seitdem überhaupt geweint hatte. Ja, doch, das hatte er, natürlich, und er wusste auch noch genau, wann. Tränen in sein Kissen. Aber niemals vor anderen. Schon gar nicht vor Ellie. Für sie war es also ein Schock. Vielleicht sogar eine Enttäuschung.
    Auch nicht, als seine Mum starb. Vor Ellie hatte er sich keine Tränen erlaubt. Ellie, die bestimmt keine zarten Gefühle für sich davonstehlende Mütter hatte. Damals war er einundzwanzig gewesen, dem Alter nach ein Mann. Und jetzt, mit neununddreißig, hatte er in Ellies Umarmung eine kleine Härte gespürt, einen Ansatz vonZurückhaltung in dem gebotenen Trost. Ich bin nicht deine Mutter, Jack, sei kein kleines Kind.
    Wie wahr. Wenn es alles seine Schuld war, wieso sollte es dann Tränen geben? Tom war losgezogen und Soldat geworden   – und er, Jack, wollte hier sitzen und weinen? Er hatte sich die Augen getrocknet, bevor Ellie ihm zuvorkam. Aber er wusste, dass er nicht genug geweint hatte, längst nicht genug. Die wenigen Tränen hatten ihm nur bewusst gemacht, dass er noch viele ungeweinte Tränen in sich hatte, einen ganzen Tank voll. Er hatte lediglich den Verschluss wieder draufgesetzt. Und was Ellie anging, so waren ihre Augen nicht einmal feucht geworden.
    Und das hatte eins für ihn geklärt, hatte an diesem schmerzlichen Tag einem törichten Bohren ein Ende gemacht. Der Frage nämlich, die ihn nie ganz losgelassen hatte, ob Tom und Ellie einmal   … Ob Ellie und Tom   … an einem Mittwochnachmittag, sagen wir. So schnell, wie Tom zur Sache kam.
    Aber hätte ihm das wirklich etwas ausgemacht   – selbst das? Nur hin und wieder mal? Wo Tom, wie sich herausstellte, sich sowieso aus ihrem Leben davonmachen wollte. Aber eigentlich war die Frage eher, ob es ihm jetzt etwas ausmachen würde, wenn er es wüsste. Jetzt, nachdem Tom sich für immer aus dem Leben davongemacht hatte. Nein, es hätte ihm nichts ausgemacht. Auch damals hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn er gewusst hätte, dass Tom sich eines Tages ganz davonmachen würde. Was mein ist, ist auch dein, Tom.
    Wohl kaum. Aber an den Nachmittagen, die Jack nach Toms Weggang mit Ellie auf der Westcott Farm verbrachte,wurde Toms Name nur selten erwähnt. Und weil Jack den Hauch eines Verdachts hegte, hatte er angenommen, Ellie selbst wollte das Thema meiden, und er seinerseits mochte auch nicht dran rühren. Aus und vorbei.
    Doch auch an dem Nachmittag damals auf der Jebb Farm, im großen Schlafzimmer, als es um den anderen Brief ging und die Frage nach Tom hätte aufkommen müssen, als
er
sie hätte aufbringen müssen, hatte er, leicht argwöhnisch, geschwiegen. Ellie war es gewesen, die ihn erwähnte. »Ich weiß, was du denkst«, hatte sie gesagt und den Teebecher unters Kinn gehalten. »Aber er hat seine Entscheidung getroffen, oder? Und überhaupt, wann hast du das letzte Mal von ihm gehört? Ich glaube nicht, dass du es ihm sagen musst. Vergiss ihn, Jack.« Und wenn sie das sagen konnte, hätte er die ganze Zeit schon beruhigt sein können. Wenigstens in diesem Punkt.
     
    Er hatte sich die Tränen weggewischt, und Ellies Augen waren trocken geblieben. Dann hatte sich zwischen ihnen ein Schweigen ausgedehnt, ein Schweigen, in dem Ellies Gesichtsausdruck zu sagen schien: Reiß dich zusammen, Jack. Das hier ist eine schlimme Nachricht, mach es nicht noch schlimmer. Auch er konnte sehen, schon in dem

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