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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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…« Wenn er den Arm hätte um sie legen und sagen können: »Ist doch nicht so schlimm.« Oder: »So etwas hatte ich mir schon gedacht.« Wenn es bedeutet hätte, dass Ellie mit ihm um seinen kleinen toten Bruder geweint hätte, den vorletzten der Luxtons. Und wenn es sie dazu bewogen hätte zu sagen   – was sie eigentlich hätte sagen müssen   –, dass sie natürlich mitkommen werde, ihn begleiten werde, keine Frage, auf dieser schrecklichen Fahrt.
    Warum hatte sie das eigentlich nicht getan, verdammt?
    Und es hätte ihm nichts ausgemacht, jetzt nicht mehr, wenn sie es damals gestanden hätte oder wenn Tom es als einen seiner Gründe angegeben hätte: »Ich mach mich aus dem Staub, Jack, du verstehst, was ich meine. Damit ich von deinem Acker bin. Jetzt ist sie ganz dein.«
    Alles wäre ganz seins.
    Immer war da das Gefühl, selbst als Tom ihm um mehrereSprünge voraus war, dass er Toms Beschützer war. Und wenn Tom ein, zwei Runden mit Ellie gedreht hätte, na, dann wäre es so, als hätte Jack ihm das Taubenschießen beigebracht.
     
    Als Tom zur Welt kam, war Jack acht Jahre alt und hatte genauso wenig wie alle anderen damit gerechnet, je einen kleinen Bruder zu bekommen. Aber dann war er da, ein winziges, gurgelndes, spuckendes Baby, und da war Vera, die eine Weile lang so aussah, als wäre sie durch die Ballenpressmaschine gedreht worden. Und für eine kurze Zeit in seinem Leben hatte Jack sich weniger als Bruder gefühlt denn als Mutter, und zwar lange bevor Tom eine ähnliche Neigung zeigen sollte. Und ein bisschen wie ein Vater. Manchmal nämlich war er   – er war ja erst acht   – mit seiner Mutter und dem rosahäutigen Bündel allein.
    In einer Ecke des großen Schlafzimmers stand eine altmodische hölzerne Kinderwiege   – kaum mehr als zwei dicke Bretter, die zu einem V zusammengezimmert und auf zwei Kufen montiert waren. Alle wussten, dass die Wiege sehr alt war. Wie vieles andere in dem Zimmer auch   – das große Bett und die alte Truhe   – war sie ein Erbstück, und keiner wusste, wie viele Luxtons darin geschaukelt worden waren. Die beiden Luxtons vom Kriegerdenkmal, die bestimmt. Und Michael, obwohl das sehr schwer vorstellbar war. So wie es schwer vorstellbar war, dass sich die kräftig gebauten Luxtons überhaupt in die Wiege gequetscht hatten.
    Aber Jack hatte darin gelegen, das hatte man ihm erzählt. Mit nur acht Jahren hatte er nicht allzu viel Mühe,sich selbst in der Wiege liegen zu sehen. Aber jetzt lag Tom drin und passte genau rein.
    Jack hatte ihn geschaukelt. Ziemlich oft sogar. Wie eine Mutter. Ja, im Alter von acht Jahren gab es wenig, das besser oder süßer für Jack war, als wenn seine Mutter zu ihm sagte, wenn er wolle, könne er Tom eine Weile in der Wiege schaukeln. Eigentlich ging es nicht darum, die Erlaubnis oder gar die Aufforderung zu bekommen, aber es war erregend, gebeten zu werden, und nichts war besser und süßer, so empfand Jack es, als Tom unter den Blicken seiner Mutter zu schaukeln, die seitliche Neigung zu spüren und das leise Knarren zu hören, wenn die Wiege, mit Tom darin, sich hin und her bewegte.
    Jack schaukelte Tom in der Wiege. Und wenn er durfte, nahm er Tom heraus und trug ihn herum. Manchmal gab er Tom sogar einen Kuss auf seinen komisch geformten Kopf. Er packte Tom unter den Schultern und hielt ihn so   – während er sich selbst zu seiner vollen acht- oder neunjährigen Größe aufrichtete   –, dass die Beine frei baumelten. Mit acht oder neun konnte Jack das eine Weile lang tun, bevor sein Vater es mit Stirnrunzeln betrachtete.
    Aber nie hatte er später zu Tom gesagt, auch als Tom vielleicht selbst den Gedanken gehabt hatte: »Tom, ich habe dich geschaukelt. In der Wiege da.« Er sagte auch nie: »Ich habe dich hochgenommen und deine Beine baumeln lassen.« Wie hätte er das sagen können? Und jetzt ging das nicht mehr. Und er wusste nicht, ob seine Mutter es an seiner Stelle gesagt hatte. Jedenfalls nicht so, dass Jack es hören konnte.
    Wie hätte er es sagen können, oder wann? Als sie imWald waren, mit dem Gewehr? Oder gemeinsam beim Melken? Oder wenn Tom von der Schule nach Hause kam, auf dem Weg vom Gatter, nachdem er Kathy Hawkes unter den Rock gefühlt hatte? »Tom, früher habe ich   –«
    Oder bevor Tom zum letzten Mal, damals, in der Nacht im Dezember, genau diesen Weg gegangen war? Wie hätte er es damals sagen können, in diesem Moment? Aber vielleicht hatte er es gesagt   – es zumindest gedacht   –

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