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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Krankenhaus lag. Da die Armee immer häufiger Regimenter zusammenlegte, versah er seine Pflichten auf der Brigadestufe (obwohl er sich immer noch dem Ersten Bataillon zugehörig fühlte), und da man ihn für der Aufgabe gewachsen hielt, hatte er einiges an Erfahrungen angehäuft. Oft saß er einer Ehefrau und kleinen Kindern gegenüber.Oder Eltern und Geschwistern. Weil die Soldaten meistens junge Männer waren, traf man seine Ursprungsfamilie oft zusammen in einem Haushalt an. Das konnte es leichter machen, oder auch nicht. Man erlebte möglicherweise eine beengte, ganz normale häusliche Szene. Das übliche Chaos. Immer machten die Menschen ein schuldbewusstes Gesicht und entschuldigten sich für die Unordnung.
    Er hatte sich beigebracht, den Menschen direkt in die Augen zu sehen. Ihm half es natürlich, auch wenn es den Menschen nicht half, denn sie errieten unweigerlich, kaum erblickten sie ihn mit der Mütze, warum er kam. Oft sagten sie es selbst, sprachen das Schlimmste aus   – was er möglicherweise korrigieren konnte. Nicht tot, das nicht. Aber wenn es das Schlimmste war   – oder selbst wenn nicht (nicht tot, das nicht, aber querschnittgelähmt)   –, konnte die Reaktion in jede Richtung gehen, in alle erdenklichen Richtungen. Wenn es beispielsweise eine junge Frau mit einem kleinen Kind war. Manchmal verloren sie gleich die Kontrolle, manchmal erst später. Manchmal forderten sie einen auf   – ein Befehl, dem man sich nicht widersetzen durfte   –, unverzüglich das Haus zu verlassen. Man musste bereit sein, wachsam.
    Es bereitete Major Richards einige Befriedigung, dass er die taktische, wenn auch kaum die militärische Fähigkeit entwickelt hatte zu erkennen, wann er den Rückzug antreten musste. Nachdem er eine knappe halbe Stunde im Lookout Cottage gesessen und die übliche (gute) Tasse Tee getrunken hatte, sagte ihm sein Gespür, dass dieser Moment gekommen sei.
    Major Richards war nie im Irak oder in Afghanistan gewesen oder sonst an einem Ort, wo zu der Zeit Explosionenstattfanden und Menschen in Stücke zerrissen wurden. Er war als Junior-Offizier zu jung für den Falkland-Krieg gewesen   – was eine Weile an ihm genagt hatte. Auch bei seinen Einsätzen in Nordirland war es ruhig geblieben. Aber in den letzten Monaten war er naher Zeuge der unmittelbaren Auswirkungen der Ereignisse im Irak und in Afghanistan geworden. Er war, könnte man sagen, so oft bei verheerenden Ausbrüchen zugegen gewesen, dass er wusste, solche Szenen häuften sich und hinterließen zunehmend ihre Spuren im Land (obwohl das nichts war im Vergleich zu der Häufigkeit dieser Szenen im Irak oder in Afghanistan.) Und dass in ihm ein merkwürdiges Gefühl für das Land entstand, in dem er lebte und dem er seine Loyalität als Soldat schuldete.
    Im Großen und Ganzen hatte er sich durch einen Prozess der Gewöhnung, falls das überhaupt möglich war, und durch Intuition an die Ausübung seiner Tätigkeit herangearbeitet. Er konnte nicht, wie ein Soldat im Irak, behaupten, dass er dazu ausgebildet worden sei. Oft kam er sich wie ein Zivilist in Uniform vor, ein vorgetäuschter Soldat. Über das Richtig und Falsch, das Warum und Wozu der Operationen im Mittleren Osten konnte er nichts sagen, konnte keine Aussagen machen, selbst wenn jemand das verlangte (obwohl das überraschend selten vorkam, also eine eher seltene Komplikation).
    Dieser Fall jedoch   – Corporal Luxton   – war eigentlich sehr einfach. Nur ein lebender Verwandter, wie er jetzt bestätigt fand. Dem vielleicht eine besondere Traurigkeit anhaftete, eine Trostlosigkeit, aber es gab keine verzweigte Familie, der er Kummer bereiten musste (was ein gewisser Trost war), keine weiteren Verbindungen, die wieunterirdische Kabel verliefen und weitere familiäre Eruptionen hervorrufen konnten. Ein Verwandter und seine Frau. Und da sie schon Zeit gehabt hatten, die Nachricht in sich aufzunehmen, hatte es keine traurigen Ausbrüche gegeben. Kein Aufheulen oder Stöhnen, keine schreckliche Sprachlosigkeit, die er auch schon erlebt hatte.
    Und der Zufall wollte es, dass er in seinem ganzen Leben noch nie auf der Isle of Wight gewesen war. Bei der Fahrt über das Wasser hatte ihn eine seltsame, unbefangene Stimmung erfasst. Kaum angemessen. Als er wieder zu seinem Wagen ging, Mütze auf dem Kopf, Schultern gestrafft (aus Erfahrung wusste er, dass man ihm möglicherweise hinterhersah, oder aber dass es im Haus, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte

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