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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Sie war überrascht, aber sie war auch froh, was sie jedoch zu verbergen suchte. Es gab keinen Grund, sich deshalb zu grämen, wenn Jack   – wie es den Anschein hatte   – sich nicht grämte. Wenn es das war, was Tom gewollt und geplant hatte, und er es getan und ausgeführt hatte, dann viel Glück. Und wenn Jack davon gewusst hatte und sich nicht grämte   – umso besser.
    Wer sich grämte, war Michael Luxton, und der hatte esan Jack ausgelassen. Aber Jack hatte es klaglos hingenommen, so schien es, als täte er es Tom zuliebe, und erst, als er glaubte, es bestünde keine Gefahr mehr, erzählte er seinem Dad, was Tom getan hatte. Aber ihr hatte er es an einem Nachmittag im Januar, auf der Westcott Farm, gesagt. »Er ist zur Armee gegangen, Ell. Aber du weißt von nichts, ja?« Als würde sein Dad bei ihr aufkreuzen und es aus ihr herauspressen.
     
    Der Nachmittag im Januar damals war eigentlich einer der besseren, helleren Tage in ihrem Leben gewesen. Sie hatte Jacks großen, vertrauten Körper mit frisch belebtem Interesse umarmt und gehalten (war es ihm aufgefallen?), aber gleichzeitig mit einer Zärtlichkeit, als hätte er Blessuren von tatsächlich ausgeführten Schlägen seines Vaters. Michael Luxton konnte ihr zuweilen wirklich Angst machen. Er sah nicht furchterregend aus, aber manchmal fürchtete sie sich vor ihm. Hätte sie sich einen Vater aussuchen müssen, mit dem sie die nächste und kaum denkbare Zukunft allein leben musste, dann hätte sie sich für ihren eigenen Vater entschieden, der klein und flink war und keine massive und bedrohliche Gestalt. Klein und listig, mit dem Funkeln echter Durchtriebenheit in den Augen, was sie als Maske erkannte (auch wenn sie sich davon gelegentlich übertölpeln ließ), eine Großspurigkeit, die hauptsächlich vom Alkohol herrührte. Ihr Vater verfügte über sie, aber er machte ihr keine Angst. Von den beiden würde sie ihn wählen. Andererseits hatte sie sich Jack ausgesucht, der manchmal aussah wie seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten.
    »Das bleibt zwischen uns beiden, Ell.«
    Sanft ließ sie die Hände über seinen großen Körper gleiten, als wäre es das erste Mal. Jetzt war ihre Situation identisch, von gleich zu gleich. Sie beide hatten jetzt nur noch ihre Väter, mit denen sie es aufnehmen mussten. Tom war aus dem Weg. Er war Soldat. Kein so schlechter Tag in ihrem Leben. Obwohl sie unter Jacks Haut, unter den von seinem Vater verursachten Prellungen, die sie sich vorstellte, versteckt die Wunde spürte, die Toms Weggehen in Jacks schwerem Fleisch hinterlassen hatte.
    Es war ein grauer, bitterkalter Nachmittag im Januar, das Heizgerät in ihrem Schlafzimmer   – ihrem gemeinsamen Schlafzimmer   – tickte, und irgendwo draußen, auf der kalten Farm, war ihr Vater, auch wenn er nur in seinem Land Rover saß und seinen Flachmann zu Rate zog, und hielt sich, wie gewöhnlich, auf Abstand, damit sie das Haus für sich hatten. So erreichte er, dass sie blieb   – das war die Abmachung. Was für eine kümmerliche Abmachung. Sie beide waren   – meine Güte!   – sechsundzwanzig.
    Aber Tom war fort, und dies war kein so schlechter Nachmittag. Es gab verschiedene Arten von Soldatenarbeit. Nicht alle wurden von Soldaten getan, oder von Männern. Sie hatte die Augen zugemacht und ihre Finger über Jacks Schultern gleiten lassen, seine Wirbelsäule entlang, so wie ein Blinder versuchen würde, die Form eines Gegenstandes zu ertasten. Die Form   – den Schmerz in ihrem eigenen Körper   – ihrer Liebe für ihn.
     
    Bisweilen kam es Ellie so vor, dass sie diesen Mann, den sie, solange sie zurückdenken konnte, gekannt hatte, nicht kannte und überhaupt nicht verstand. Lange bevorer ein Mann war und sie eine Frau. So war das. Mann und Junge, Mädchen und Frau. Manchmal musste sie lächeln bei dem Gedanken, als wären sie zusammen geboren, manchmal erdrückte er sie. Sie wusste, dass andere Frauen vielleicht dachten: Wie schade. Wie schade für die arme Ellie Merrick, dass es nicht andersherum war und dass Jack nicht Tom war. Aber sie hatte es ehrlich gestanden nie so betrachtet, und wenn sie sich diese anderen Frauen vorstellte, mit ihrem Kopfschütteln, konnte ihr Blut in Wallung geraten, und sie spürte die Klauen, mit denen sie Jack Luxton aufs Heftigste verteidigen würde. Dann fühlte sie sich, wie ihrer Vorstellung nach Jack sich gefühlt hatte, als er den Zorn seines Vater wegen seines weggelaufenen Bruders auf sich gezogen hatte.
    Ellie

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