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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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sich wieder bemerkbar, und um ihn zu beschwichtigen und zu beruhigen, zwang er sich in der Cafeteria, ein großes, klebriges Plunderstück zu verzehren und eine Tasse Kaffee zu trinken.
    Um ihn herum war eine Zufallsmischung der Nation (auch so ein Wort, wie »Staatsbürger«, das ihm in letzter Zeit aufstieß) anzutreffen, wie in jeder Cafeteria einer Raststätte an einem normalen Vormittag in der Woche. Die gelassene, gemeinschaftliche Atmosphäre beruhigte ihn und machte ihn gleichzeitig nervös. Jack mochte Städte nicht, aber nicht, weil er etwas gegen Menschen hätte   – Menschen, die aus dem Zusammenhang der Stadt genommen waren. Das hatten ihn die Feriengäste unverhofft gelehrt. Die Lookout-Feriengäste waren ihm ein Trost und eine Freude   – und er sah es als seine Aufgabe an, sie zufriedenzustellen.
    Er dachte jetzt an Urlauber, die im Sommer auf ihrem Weg nach Süden aus Städten wie Birmingham oder Nottingham hier Halt machten, ihr Ziel, vielleicht zum ersten Mal, der Lookout-Wohnwagenpark. Unterwegs zu einer kleinen Insel, die, in ihrer Vorstellung wenigstens, vollständig zu Ferienzwecken existierte. Plötzlich empfand er einen Anflug von Zärtlichkeit.
    Jetzt aber war November. Der Himmel war vorwiegend grau mit einer Ahnung von Regen. Das Gefühl, dass er plötzlich verhaftet und verhört werden könnte, war vergangen, aber er fragte sich, ob er mit seiner schwarzen Krawatte von den Menschen um sich herum kritisch beäugt wurde. Man würde einen offensichtlichen Schluss über den Zweck seiner Reise ziehen (obgleich der von der Wahrheit recht weit entfernt wäre). Wer war er? Wasmachte er, so groß wie er war, mit diesen großen Händen? Ziemte es sich denn für einen Mann mit einer schwarzen Krawatte, sich ein Plunderstück einzuverleiben?
    Er dachte wieder an den Bestattungswagen und die Reise, die dieser machen musste: von Devon nach Oxfordshire. Es gab seltsame Aufgaben in der Welt, seltsame Zwecke.
    Um ihn herum jedoch bestand die Mehrheit aus einzelnen, beschäftigten Männern (keiner von ihnen trug eine schwarze Krawatte), die genau das taten, was er auch tat: Sie stopften sich ein klebriges Gebäckteil in den Mund, kauten gierig, aber ohne jedes Anzeichen von Behagen. Nährte jeder von ihnen   – obwohl bestimmt keiner von ihnen heute auf einer Reise, einer Mission wie seiner unterwegs war   – seinen eigenen kleinen Knoten der Angst?
    Sie waren mitten in England, zu Friedenszeiten. Aber der Krieg gegen den Terror tobte weiter.
    Er nahm sein Mobiltelefon heraus. Auch das war etwas, das die anderen Männer taten. Er aber starrte nur auf das Display und steckte es dann wieder in die Tasche. Wegen des Kaffees oder der frisch aufkommenden Angst oder einfach als vernünftige Vorsorge, bevor er sich wieder auf den Weg machte, ging er noch einmal zur Toilette. In dem harten weißen Licht betrachtete er sich abermals im Spiegel. Er sah nicht so aus, dachte er, wie er vor wenigen Stunden zu Hause ausgesehen hatte. Er hätte zum Friseur gehen sollen, vielleicht speziell hierfür. Im Nacken und um die Ohren ringelte es sich ein bisschen. Er hatte eine Zusammenkunft mit der Armee. Er rückte sich die Krawatte zurecht, obwohl sie gut saß und es kaum draufankam, solange er im Auto war. Das Gesicht mit den schweren Zügen, das ihm entgegenblickte, schien ihn nicht zu kennen.
    Sah er aus wie ein Staatsbürger, ein guter Staatsbürger, in seinem weißen Hemd und dunklen Anzug? Nein, er sah aus wie ein Gangster.

19
    Als Dad und Tom, nachdem sie Luke begraben hatten, zurückgekommen waren, hing eine Stille über dem Haus, als hätte es eine Explosion gegeben, viel größer als die kleine, aber bedeutsame, die Jack vom Barton Field her gehört hatte. Dicke, heiße Wolken ballten sich am Himmel, aber es war einer dieser Tage, an denen der Donner ausblieb. Jack bekam Toms genaue Schilderung erst am nächsten Morgen zu hören. Nachdem er sie angehört und sich in Toms Situation zu versetzen versucht hatte, entstand in ihm das Gefühl, dass Tom, der sich nicht in der Lage gesehen hatte, Luke zu erschießen (und wer wollte ihm das verübeln?), eines Tages sehr wohl imstande sein könnte, das Gewehr auf seinen eigenen Vater zu richten. So etwas schien tatsächlich möglich, auf ihrer harmlosen, abgelegenen Milchfarm in den verschwiegenen grünen Hügeln.
    Inzwischen war Tom groß und kräftig, aber Jack fand immer noch, wenn es um das Verhältnis zwischen Dad und Tom ging, dass Dad sich an jemanden halten

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