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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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sollte, der ihm gewachsen war, und dass es an ihm, Jack, war, sich wenn nötig dazwischenzuwerfen. Er fragte sich, was er getan hätte, wenn er dabei gewesen wäre, als Zeuge auf dem Barton Field. Hätte er das Gewehr, das Dad Tomhingehalten hatte, an sich gerissen und Luke selbst erschossen? Und hätte das die Frage, wie die Dinge auf der Jebb Farm standen, wer das Sagen hatte, für immer geklärt?
    Er fragte sich, was geschehen wäre, wenn er und Dad da unten gewesen wären, nicht Dad und Tom.
    Erst viel später   – nachdem Tom von der Jebb Farm weggegangen war   – erzählte Jack Ellie die ganze Geschichte, so wie Tom sie ihm erzählt hatte. Zunächst hatte er ihr nur gesagt, dass Dad Luke erschießen musste. Es war hart, aber notwendig. Das Ende von Luke. Aber auch, als er ihr die ganze Geschichte erzählte, zögerte er, die Worte zu wiederholen, an die er sich so deutlich erinnerte, so wie auch Tom sich offensichtlich an sie erinnerte. »Und ich hoffe, eines Tages, wenn es nötig ist   …«
    Als Luke seinen plötzlichen Tod fand, wütete der Rinderwahn mit seinen Auswirkungen schon eine Weile. Er hatte seinen Höhepunkt überschritten, sagten einige, hing aber immer noch in der Luft, wie die drückenden Wolken, und vielleicht war es damals, an dem Morgen, als der Schuss auf dem Barton Field durch die Luft pfiff, dass der Wahn erst richtig um sich griff.
    Doch was sie an dem Tag vor Schlimmerem bewahrte, was sie zu Zurückhaltung und Mäßigung mahnte und vielleicht eine weitere Explosion verhinderte, war die einfache Tatsache, dass Luke tot war. Dass er nicht mehr da war. Es war nur der Tod eines Hundes, und genau besehen war es eine Gnade, aber dieser Tod hinterließ mehr als nur die Lücke von der Größe eines Hundes, denn da war   – etwas, das niemand zu erwähnen wagte   – der Nachhall von Veras Tod.
    Jack versuchte sich in die Lage seines Vaters zu versetzen (und es fiel ihm keineswegs leicht, sich in einen anderen hineinzuversetzen) und kam auf den Gedanken, dass die Art und Weise, wie sein Dad Lukes Tod herbeigeführt hatte, mit dem Tod seiner Frau zu tun haben musste. Als hätte das schnelle Töten eines Tieres, das von Tag zu Tag kränker wurde, Michael von all den Gefühlen der Trauer, des Zorns und des Verlassenseins heilen können, die in ihm bohrten. Aber diese Wirkung stellte sich nicht ein. Für keinen von ihnen. Es brachte nur noch mehr Krankheit. Zusätzlich zum Rinderwahn.
     
    Nachdem Tom und Dad vom Barton Field zurückgekommen waren, stand Lukes Korb mit der verkrumpelten Schottenmusterdecke   – Lukes Haare und sein Geruch hafteten noch daran, und die Kuhle, die sein Körper hinterlassen hatte, war noch zu erkennen   – in der Küchenecke. Er blieb tagelang dort stehen, wie ein Urteil gegen sie alle. Michael, der imstande gewesen war, Luke das Gehirn wegzupusten, konnte jetzt den Anblick kaum ertragen. Niemand wusste, was tun. Vielleicht hing zwischen ihnen der gemeinsame, unausgesprochene Gedanke, dass Luke mit seiner Decke hätte begraben werden sollen. Das wäre nur recht gewesen. Oder wenigstens hätte Luke mit seinen vertrauten Dingen, der Decke und dem Korb, zum Barton Field gefahren werden sollen, statt ohne sie weggetragen und in den Pick-up gesetzt zu werden wie ein Kalb auf dem Transport zum Schlachthaus.
    So oder so, dachte Jack, hatte Luke eine klare Ahnung gehabt. Und wäre die Decke unter ihm gewesen, wäreseine Ahnung noch klarer gewesen. Dad hatte es vielleicht doch richtig gemacht. Manche Dinge ließen sich nicht auf nette Weise erledigen. Auch der Befehl, das Vieh zu töten, ließ sich, als sie sich schließlich dazu durchgerungen hatten, nicht auf nette Weise ausführen.
    Andererseits waren Lukes Decke und sein Korb noch da, ein bisschen wie ein Puffer, der den Unterschied zwischen der Anwesenheit und Abwesenheit von Luke verschwommen machte, irgendwie weicher. Ein Urteil und zugleich ein Trost, wie Veras Schürze.
    Und dann war es Tom, auch diesmal, der den Schritt machte, ganz unvermittelt, dachte Jack, so ähnlich wie sein Vater, als er Luke zum Pick-up getragen hatte. Auch wagte niemand, Tom in dem Moment aufzuhalten oder zur Rede zu stellen. Er war für die Wäsche zuständig und vertrat, soweit das möglich war, die Stelle der Haushälterin und Mutter. Und vielleicht hatte Dad das nie gut hinnehmen können.
    Tom nahm Lukes Decke, trug sie auf den Hof, schüttelte und klopfte sie. Dann wusch er sie, sehr gründlich. Es gab einen alten Zinkzuber, der

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