Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
Vom Netzwerk:
unwillkürlich mehrere Male tief und mühevoll ein undsagte bei jedem Atemausstoß mit lauter, heiserer Stimme: »Tom.« Dann   – er wusste nicht genau, ob er auch das laut gesagt hatte, wenn auch in einem anderen Ton, oder nur gedacht hatte   –: »Ellie. Ellie.«
    Er betrachtete sich im Rückspiegel, fuhr glättend über sein Haar und griff sich zum hundertsten Mal an die Krawatte. Bei der Eingangskontrolle hatte er sich schon das Jackett angezogen. Die Papiere, von denen er glaubte, er würde sie brauchen, steckten in seiner Innenbrusttasche. Offizielle Einladung. Zeremonienordnung. Pass. (Man konnte nie wissen.) Der Brief von Babbages, dem Bestattungsunternehmen. In einer anderen Tasche war sein ausgeschaltetes Mobiltelefon. Jetzt würde er es wohl kaum anstellen.
    Aus seiner Hemdtasche nahm er die Medaille   – sie fühlte sich warm an   – und ließ sie in die leere Brusttasche seines Jacketts gleiten. Warum er das tat, hätte er nicht sagen können. Damit sie Tom näher war. Dann stieg er aus und verriegelte den Wagen.
     
    Von da an war Jack wie eine Marionette, ein Verlorener, der sich durch das, was vor ihm lag, steuerte und sich steuern ließ. Wäre es eins der Wörter in seinem Sprachgebrauch gewesen, hätte er das Wort »Autopilot« benutzt. Er hätte sich auch dann nicht mehr von sich selbst entfremdet fühlen können, wenn er in den Buckingham Palace gerufen worden wäre, um von der Königin zum Ritter geschlagen zu werden.
    Er ging durch die Glastüren (auf einem Schild stand »Empfangszeremonie«) und wurde mit einer Höflichkeit, die intensiver war als die bei der Eingangskontrolle,aber auch, wie ihm nicht entging, mit schwacher, leicht verhohlener Erleichterung begrüßt und auf einer Liste abgehakt.
    Ich bin Jack Luxton.
    Vor ihm, durch einen weiteren Eingang, bewegte sich eine Menge   – irgendwie wurde er hineingesaugt   – von vielen Menschen in Uniform, einige davon erstaunlich prächtig und dem Anschein nach hochrangig. Sein schlichter Anzug fühlte sich umgehend schäbig an. Es gab Säbel, Schärpen, Goldtressen, Medaillen, Epauletten. Menschen in Verkleidung. Einige der Uniformen waren derart überladen und überfrachtet, dass Jack sich fragte, ob sie nicht schon fast auf geheimnisvolle Weise den Aufzügen von Herzögen und Grafen gleichkamen. Schon vorher hatte er der Liste der Anwesenden entnommen, dass er sich tatsächlich in der Gegenwart eines Vicomte (was war eigentlich ein Vicomte?) und mehrerer Lords befinden würde. Er hatte sich nicht privilegiert gefühlt. Es hatte ihm Angst gemacht.
    Zwischen den Männern in Uniform waren mehrere Frauen in aufsehenerregenden   – so empfand Jack es   – Kleidern und Hüten, als wäre dies eine Hochzeit, und manche von ihnen trugen dazu ein Lächeln, das gar kein richtiges Lächeln war und ihn an einen Reißverschluss erinnerte. Außerdem sah er mindestens zwei Männer, die in Uniform waren und darüber lange, mit Spitzen besetzte Soutanen trugen.
    Inmitten dieser Menge, und gleichwohl getrennt davon, standen zwei Grüppchen von Zivilisten (auch dieses Wort, wie »Staatsbürger«, drängte sich ihm jetzt auf), mit denen Jack sich vergleichbar fühlte, was die Kleidung betrafals auch den Gesichtsausdruck, der Benommenheit und Verwirrung ausdrückte. Er wusste sofort, wer sie waren, und hatte intuitiv das Gefühl, es wäre gut, wenn auch schwierig, in ihre Nähe zu kommen. Beide Gruppen waren recht groß und umfassten mehrere Generationen, von Großeltern zu Enkelkindern. Eins der Kinder war so klein, dass es von der Mutter auf dem Arm getragen wurde. Die Mutter wirkte nicht nur durch das Gewicht beschwert, sondern auch so, als stünde sie auf wankendem Boden. Alle Kinder sahen aus, als wären sie irrtümlicherweise da.
    Alles war mit einem Mal ziemlich schrecklich: die Menschen, die verunsicherten Frauen (halb begriff er, dass die mit ihren Hüten und ihrem Lächeln da waren, um eine Art Balance herzustellen), die Kinder zwischen all den Männern in Uniform. Die beiden Gruppen schienen einerseits jeweils einen festen inneren Zusammenhalt zu bilden, sich aber andererseits, obwohl voneinander getrennt, aneinander zu klammern. Er war das dritte Grüppchen, ein Grüppchen bestehend aus einem Menschen. Er empfand sowohl Solidarität, als auch eine schreckliche, beschämende Isolierung, weil er allein eine Gruppe bildete.
    Aber zur gleichen Zeit hatte er etwas anderes entdeckt, außerhalb der Versammlung   – etwas, das in einiger

Weitere Kostenlose Bücher