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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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geschlagenen Menschen sagen, das ihnen half? Ihre Trauer war vielfältig, wenn auch miteinander geteilt, und sie sähen vor sich nur ihn, einen großen, grobschlächtigen Mann. Vielleicht dächten sie: der Arme, und ganz allein. Aber was sie auch sehen würden, glaubte Jack zu wissen, weil es unvermeidlich und anschuldigend von ihm ausstrahlen würde, das war, dass er hier war, um seinen Bruder abzuholen, weil es ihm aufgegeben war, obwohl er seinen Bruder seit fast dreizehn Jahren nicht gesehen hatte, ihm seit zwölf Jahren nicht geschrieben hatte, nicht gewusst hatte, wo er war, und außerdem die meiste Zeit versucht hatte, nicht an ihn zu denken.
    Ungeachtet seines Gefühls, als Schuldiger deutlicherkennbar zu sein, hatte er dennoch den Wunsch, seine großen Arme auszubreiten und so viele dieser Menschen in sie zu schließen wie nur möglich, als wäre er ein verlorenes Mitglied ihrer Familie, das zu ihnen zurückkehrte. In seinem Kopf wollte er zu ihnen sagen: »Es ist in Ordnung. Ich bin nur ich. Aber mit euch habe ich großes Mitgefühl.« Stattdessen sagte er ein ums andere Mal, während er immer mehr Hände schüttelte und gern gewusst hätte, was in seinem leeren, verschlossenen Gesicht zu lesen war: »Ich bin Jack Luxton. Tom Luxtons Bruder. Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Ich bin Jack Luxton. Es tut mir sehr leid.«
     
    Dann verstummte plötzlich das Stimmengemurmel im Raum, und es war so weit, dass sie zu der Zeremonie nach draußen gehen sollten. Dazu wurde den Gruppen der Familienangehörigen, von ein paar uniformierten Saaldienern abgesehen, der Vortritt gelassen, und es erschien Jack nur natürlich, dass er den Abschluss bildete. So wie es auch natürlich   – und beruhigend   – schien, dass er draußen, auf dem dafür vorgesehenen Platz, am Rand stand, hinter den anderen Zivilisten. Man hätte sich umdrehen müssen, wollte man ihn ansehen.
    Zu diesem Zeitpunkt verlor er auch den Kontakt zu Major Richards. Doch erst, nachdem dieser vertraulich zu ihm gesagt hatte: »Danach geht es noch   … weiter.« Dann hatte er innegehalten, Jack aufmerksam angesehen und gesagt: »Aber ich an Ihrer Stelle würde mich davonmachen.« Jack war sich nicht sicher, was Major Richards mit »weitergehen« meinte, oder ob Major Richards selbst es wusste, aber er hatte das Gefühl, dass Major Richardsüber das hinausgegangen war, was er hätte sagen müssen oder sollen (gab es einen militärischen Befehl, laut dem er nur bestimmte Dinge sagen durfte?). Außerdem hatte Jack das Gefühl, dass er auch Major Richards in seine Arme hätte schließen mögen. Er fragte sich, ob Tom in seinen letzten Tagen im Irak einen solchen Kommandeur gehabt hatte.
    Was dann geschah, schien zu der Zeit und später, in Jacks Erinnerung, unerträglich lange zu dauern, und gleichzeitig nicht annähernd lange genug, als gäbe es für alle Zeiten nur diese Zeremonie von weniger als einer Stunde, die für das ganze Leben seines Bruders stand. In dem Saal war die Stimmung, trotz der anwesenden Männer in Uniform, unreglementiert gewesen. Draußen hingegen ordnete sich alles militärischer Disziplin unter. Die Luft war kühl, aber nicht kalt, und ein bisschen bewegt, der Himmel bewölkt, und nur hier und da war die kleinste Andeutung eines Spalts in der Wolkendecke zu sehen. Die Rollbahn war feucht, überall standen Pfützen. Am Morgen hatte es hier, anders als auf der Isle of Wight, geregnet. Vielleicht regnete es jetzt am Lookout.
    Über allem hing der Geruch von Kerosin und das Gefühl, nach dem überfüllten Raum, dass sie am Rande von etwas Riesigem und Erbarmungslosem standen. Als tobte gleich hinter dem Horizont, obwohl sie hier in Oxfordshire waren, ein Krieg. Von ebener Erde aus gesehen sah das Flugzeug enorm groß aus, und mit seiner sich den Betrachtern bietenden höhlenartigen Öffnung hinten (obwohl es in dem trüben Licht und durch die erhöhten Treibstofftanks nicht möglich war, ins Innere zu sehen) hatte Jack den Eindruck, dass es nicht etwasentladen, sondern alle Menschen draußen in sich aufnehmen wollte. Vielleicht wäre der Höhepunkt dieses Ereignisses erreicht, wenn sie alle   – Generäle und Grafen, oder was immer sie waren, die Damen mit den Hüten, die Padres mit den weißen Soutanen und die schwarz gekleideten Trauergäste   – in das große, dunkle Innere aufgesaugt worden waren und in den Irak aufbrachen.
    Die hochrangigen Uniformierten und ihre Entourage hatten sich, von den Angehörigengruppen getrennt,

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