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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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seiner Verfolgung meiden. Musste eine Strecke zwischen sie legen.
    Aber er war kaum fünf Meilen gefahren und hätte nicht sagen können, wo er war   – irgendwo im unbekannten Herzen Englands   –, da musste er in eine Haltebucht fahren, wo eine Reihe von gewaltigen Schaudern seinen Körper schüttelte und ihn zwang, während er in der Haltebucht stand, sich am Steuerrad festzuklammern, so als wollte er es gleich ausreißen.

21
    Aber es hätte sowieso nicht funktioniert, oder? Wenn er sich hätte erheben und eine Rede halten müssen und dann gesagt hätte, dass Tom sich immer schon die beiden Luxtons von damals zum Vorbild genommen habe. Weil er damit auch gesagt hätte, dass Tom in Wirklichkeit losziehen und sich umbringen lassen wollte. Wie es ja geschehen war. Außerdem, was war das eigentlich für ein Krieg, in den Tom gezogen war, vor dreizehn Jahren, als er sich von der Jebb Farm aufgemacht hatte? Und was war das genau für ein Krieg gewesen, in dem er jetzt gekämpft hatte?
    Wenigstens hatten die beiden jungen Luxtons gewusst, worum es ging. Vielleicht.
    Es hätte nicht funktioniert, weil es nicht die Wahrheit war. Aber es hätte ohnehin nicht funktioniert, weil Jack Luxton nie im Leben eine Rede hätte halten können   – vor den Lords und Ladys und den Colonels   – auch nicht, wenn sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.
     
    Er blickt hinaus durch das regennasse Fenster des Cottage und denkt daran, wie er zwischen fremden, kahlen Feldern gehalten hatte, um sich dem Zittern und Schluchzen zu überlassen. Tom war der Verräter, verehrte Lordsund Ladys, Tom war der Deserteur, der Fahnenflüchtige. Der vor dem Krieg gegen den Rinderwahn und vor dem landwirtschaftlichen Ruin weglief. Und vor seinem Vater, der mit sich selbst in Fehde lag.
    Viel Glück, Tom.
     
    Eines Morgens beim Melken (inzwischen hatten sie wieder eine Herde, mehr oder weniger, und konnten die Milch verkaufen), hatte Tom ihm die ganze Geschichte erzählt. Von seiner Fahrt nach Exeter vor über einem Jahr, wo er sich einen Anzug kaufen sollte. Davon, dass er alles für seinen achtzehnten Geburtstag geplant hatte. Auf eigenen Füßen. Ab dem 16.   Dezember. Scheiß auf Weihnachten. Und scheiß auf die Geburtstage, genau genommen. Was waren das schon für Geburtstage, in letzter Zeit, auf der Jebb Farm?
    Die Kühe in den Boxen hatten gedampft und mit den Schwänzen gezuckt. Es war ungefähr um diese Jahreszeit   – November, kurz nach dem Remembrance Day, zu dem Tom den Anzug getragen hatte, das zweite Mal zu dem vorgesehenen Zweck.
    »Das bleibt unter uns, Jack.«
    »Und den Kühen«, hätte Jack sagen können, wenn ihm das so schnell eingefallen wäre.
    Dabei musste Jack an diesem Morgen ziemlich schnell und ernsthaft denken. Und einer seiner ersten Gedanken war, dass Tom gar nichts hätte sagen müssen. Tom hätte sich einfach, so wie es sein Plan vorsah, aus dem Staub machen und Jack überrascht und unvorbereitet zurücklassen können, so wie am Ende den Vater. Aber Tom erzählte es ihm, so dachte Jack, weil er sein Bruder war.Er hatte abgewartet und vielleicht einen guten Zeitpunkt abgepasst, aber darüber wollte Jack nicht nachdenken. Schließlich erzählte Tom es ihm jetzt.
    Und das bedeutete, dass Tom ihm eine ganze Reihe verschiedener Reaktionen zur Wahl stellte. Zum Beispiel, dass Jack sagte: »Das kannst du nicht tun, Tom, das geht nicht.« Oder dass Jack Tom in den Rücken fiel und es ihrem Vater erzählte. Oder dass Jack anfing darüber nachzudenken, warum er nicht selbst vor Jahren etwas Ähnliches getan und Tom der Willkür ihres Vaters überlassen hatte. Dann war da die Möglichkeit (die, wie es schien, nicht allzu ferne Möglichkeit), dass er selbst der Willkür ihres Vaters überlassen war und so tun musste, als hätte er von nichts eine Ahnung gehabt.
    Doch keine dieser theoretischen Reaktionen hatte Jack damals lange beschäftigt, denn über allem anderen stand die Tatsache, dass Tom ihm sein Vertrauen schenkte. Tom hätte nichts zu sagen brauchen. Aber wozu hatte man einen Bruder?
    Das ständige Zischen und Klappern der Maschinen, die vertraute Parade gefüllter Euter und das Platschen von Kuhfladen schien Jack zu vermitteln, dass sich, obwohl Tom gerade ein Auseinandergehen, eine Trennung in ihrem Leben angekündigt hatte, nichts ändern würde, dass alles so bleiben würde wie bisher. Oder wenigstens so, wie es jetzt, nach dem Rinderwahn und dem Preis für Kälber, war. Oder wenigstens für ihn, Jack, so

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