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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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bekommen, wie man es machte. Sollte er diese witzige Bemerkung machen? Würden sie morgen wieder einen Zwanziger erwarten? Zusammen wären das dann hundert, zusätzlich zu diesen vierzig.
    »Es wird uns eine Ehre sein, Mr.   Luxton«, sagte der eine. Das sagten sie immer, vielleicht lernten Bestattungsunternehmer in ihrer Ausbildung, das zu sagen, aber es kam Jack plötzlich in den Sinn, dass die Männer sich vielleicht freiwillig zu diesem Dienst gemeldet hatten. Ähnliches hatten sie noch nie zuvor gemacht. Auch Jack nicht. Es schien, als hätte die Zeremonie ihnen Ehrfurcht eingeflößt. Es konnte ja nicht sein, dass sie für ihn, Jack, Ehrfurcht empfanden, den Bruder eines Mannes, der im Dienst für sein Land gefallen war. Sahen sie nicht, dass er sich wie der letzte Dreck fühlte?
    »Ich bin Dave«, sagte der eine. »Derek«, sagte der andere.
    Der eine war dünn und hatte rötliche Haare, der andere war gedrungen und dunkel. Unter keinen Umständenhätte man sie für Brüder halten können. Wieder schüttelte er ihnen die Hände. Sie schienen das zu wollen.
    »Ich heiße Jack. Meine Name ist Jack.« Das wussten sie schon, er hatte es schon gesagt, aber er sagte es noch einmal. »Nennen Sie mich Jack. Wir sehen uns morgen.«
    Dann drehte er sich einfach um. Ging davon   – stahl sich, schlich sich davon. Er konnte nichts sonst tun, taugte zu nichts sonst. Er hatte sich seinen Parkplatz gemerkt und eine Möglichkeit entdeckt, wie er dorthin gelangen konnte, ohne durch irgendwelche Türen gehen zu müssen. Er konnte eine Abkürzung über ein Rasenstück nehmen und dann um das Gebäude herumgehen, aus dem sie alle kürzlich getreten waren.
    Er drehte sich um und ging. Er fand nichts dabei, dass man ihn beobachtete. Ihm machten die Blicke im Rücken nichts aus, das Gefühl, ein Deserteur zu sein. Ihm machte es nichts aus, falls es lauter andere Dinge gab, die er noch hätte tun sollen oder die man von ihm erwartete. Er ging einfach weg.
    So wie Tom damals einfach weggegangen war, verdammt.
    Er kam zum Auto, riss sich das Jackett runter, warf es   – mit der Medaille noch in der Brusttasche   – auf den Rücksitz und ließ den Motor an. Er wusste, dass er aus dem Blickfeld war, nachdem er um das Gebäude herumgegangen war. Jetzt war er wieder in der unauffälligen, unfeierlichen Welt der Parkplätze. Er fuhr rückwärts aus der Lücke und verließ das Gelände auf demselben Weg, auf dem er (so lange schien es ihm her) gekommen war. Wären Schranken herabgelassen worden, um ihn amWegfahren zu hindern, hätte er den Fuß aufs Gaspedal gesetzt und sie durchbrochen. Aber er passierte die Eingangskontrolle ohne Zwischenfall (wurde die Ausfahrt ebenfalls kontrolliert?) und kam zum Haupttor, und danach konnte er beschleunigen und einfach fahren. Mit dem deutlichen Gefühl, dass er ein Flüchtiger war   – man würde über ihn sprechen   –, fuhr er durch die wie ein Militärlager anmutende Stadt und aufs offene Land hinaus. Er wusste, dass er die M4 finden und sich dann Richtung Westen halten musste.
    Er hätte keinen schlüssigen Grund angeben können für die Hast, mit der er floh und die auch dann nicht nachließ, als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, aber eine merkwürdige Erklärung kam ihm beim Fahren in den Sinn und verfolgte ihn fortan. Es war der Leichenwagen. Er wollte wegkommen von dem Leichenwagen, der ja dieselbe Route nehmen würde   – M4, M5   – wie er, und obwohl ein Leichenwagen grundsätzlich ein langsames Fahrzeug war, hatte Jack Angst, er könnte von ihm eingeholt werden und ihn plötzlich im Rückspiegel näherkommen sehen. Das war verrückt und ganz und gar unwahrscheinlich. Der Leichenwagen wäre jetzt nicht einmal losgefahren und müsste, wenigstens am Anfang   – und zweifellos im Konvoi mit den anderen Leichenwagen   – in feierlichem Schneckentempo fahren. Aber der Gedanke, dass der Wagen aufholen und ihm irgendwo auf der bevorstehenden Reise begegnen würde, lastete auf ihm wie ein Albdruck.
    Noch vor wenigen Minuten hatte er sich gewünscht, im Leichenwagen selbst zu sitzen. An seinem rechtmäßigen Platz. Nachdem er sich so an den Sarg geklammerthatte und ihn nicht hatte loslassen wollen, wie konnte er sich jetzt davor fürchten, seinen eigenen Bruder hinter sich zu haben? Aber das war genau der Punkt. Er hatte sich von seinem Bruder getrennt (was war daran neu?). Er musste in diesem verdammten Cherokee sitzen. Deshalb musste er den Leichenwagen und die Empörung

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