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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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er.
    Er hörte Tom den Flur entlang und die Treppen runterschleichen. Tom wusste genau, auch im Dunkeln, wo er auftreten konnte, welche Stufen knarrten, welche nicht. Die Stufen waren Teil von ihm. Jack hörte die Geräusche in der Küche und dann   – das war das Schwierigste für Tom, denn die Scharniere waren alles andere als leise   – die Tür zum Hof, die geöffnet und geschlossen wurde. Er machte das alles so schnell und so leise wie möglich. Wäre Tom als Soldat speziell für solche nächtlichen Operationen ausgebildet worden, hätte man sagen können, dass er es gut gemacht hatte.
    Jack meinte schwache Schritte zu hören, als Tom denHof überquerte und erst in die Scheune hinein- und dann wieder herausglitt. Dabei hörte er es weniger, als dass er es sich vorstellte und in seinem Kopf sah. Das war nicht weiter schwierig. Denn für Jack in seinem Kopf sowie für Tom auf den Füßen war der Weg entlang dem Pfad so, als wollte man im Winter bei Dunkelheit zum Schulbus. Wie oft hatten sie beide das gemacht   – jeder einzeln, wegen der vielen Jahre zwischen ihnen? Im Dunkeln, aber man kannte jeden Schritt, und weil man jeden Schritt kannte, brauchte man keine Taschenlampe, obwohl man eine dabei hatte. Es war eine kleine Mutprobe, sie nicht zu benutzen, kein Licht zu brauchen   – bis die grellen Scheinwerfer des Schulbusses um die Kurve kamen und einen erfassten, wie die Augen eines schnaubenden Monsters, das einen mit fortriss.
    Vielleicht dachte Tom jetzt an all das. Jack konnte Toms Schritte weder sehen noch hören, aber er konnte sie sich vorstellen, sie zählen, jeden einzelnen, als wären es seine eigenen. Er konnte, so als würde er eine Taschenlampe für Tom halten, auch wenn sie nicht gebraucht wurde, jede tiefe Furche sehen, hart vom Frost und mit den Eisfingern dazwischen. Auf beiden Seiten die hohen Böschungen mit den Hecken, Sterne, die durch die Dornen blinkten. Dann die Biegung, von der man auf dem umgekehrten Weg den ersten Blick auf das Farmhaus hatte, nur das Dach und den Schornstein. Oder wo man, auf dem Weg fort von der Farm, stehenblieb und sich umdrehte. Würde Tom sich umdrehen? Aber es würde alles in Dunkelheit liegen. Oder vielleicht, wenn der Mond schien, wäre ein Schimmern der Dachpfannen zu sehen, unter denen Jack lag.
    Einhundert Schritte, zweihundert. Dreihundert ansteigende, atemlos machende Schritte   – in die Freiheit. Wenn es die Freiheit war. War die Armee Freiheit? Tom glaubte das offenbar. Die Jebb Farm war es nicht. Dreihundert Schritte, sein pochendes Herz, sein dampfender Atem. Dann das Gatter.
    Viel Glück, Tom. Das sagte er in sein Kissen hinein, als er Toms Schritte auf dem Pfad zählte und ihn sah, wie er sich über das Gatter schwang   – er würde es nicht öffnen. Den Rucksack würde er rüberwerfen. Dann die Straße nach Marleston. Wenn der Mond schien, würde er die Schlaglöcher auf der Fahrbahn bescheinen. Nach zwanzig Minuten oder so käme Tom zum Friedhof und am Kriegerdenkmal vorbei und am Grab seiner Mutter. Würde er stehen bleiben?
    Viel Glück, Tom. Wann hatte er, Jack, ein erwachsener Mann, je in sein Kissen geflüstert? Oder den Bezug feucht an seiner Wange gespürt?
    Viel Glück, Tom.
    Er hatte es zu sich selbst gesagt, den ganzen nächsten Tag, wie zu seiner Selbsterhaltung, nachdem Dad erst die Karte zerrissen und dann ausgerastet war. Und er hatte es immer wieder gesagt, in den Wochen und Monaten, ja, in den Jahren danach, als wollte er etwas wahr machen, das nicht wahr sein konnte. Bis etwas, das er eigentlich schon immer gewusst hatte, in sein Bewusstsein sank. Dass Tom gegangen war, seinen eigenen Weg gegangen war. Nie wieder würde er Toms Stimme hören oder sein Gesicht sehen.

22
    Major Richards sah Jack über das Rasenstück und um die Ecke des Gebäudes verschwinden und machte sich Vorwürfe. »Ich an Ihrer Stelle   …« Aber das hatte nicht bedeutet, dass der Mann sich einfach wortlos aus dem Staub machen sollte. »Sich davonmachen« hatte mit Takt zu tun.
    Major Richards war ein wenig enttäuscht. Und doch wünschte er Jack seltsamerweise, als er ihn weggehen sah, alles Gute für seinen Weg. Jack ging so schnurstracks und störrisch wie ein großes Kind, das sich an die absurde Hoffnung klammert, unsichtbar zu sein. Oder so wie ein Soldat, dachte Major Richards   – obwohl er nie in der Situation war, das zu sehen   –, vom Schlachtfeld geht.
    Fraglos würde man ihn nicht aufhalten. Man gestattete einem Zivilisten,

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