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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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wie immer. Da er ja nicht wegwollte.
    Auf eigenen Füßen.
    Ohne bei seiner Arbeit innezuhalten, hatte er gesagt: »Das verstehe ich, Tom. Ich verstehe, was du da erzählst.«Mitten beim Melken kann man sich nicht zurücklehnen und sagen: »Lass uns mal in Ruhe drüber reden.« Vielleicht hatte Tom das mitbedacht.
    Sie beide hatten mit lauten Stimmen sprechen müssen, um die Melkanlage zu übertönen. Diese laute, alte Melkanlage. Es war, als würde man flüstern, während man die Worte schrie. Dann, nach einer Weile, als die letzten Euter leer gemolken waren, sagte er: »Ist gut, Tom. Du kannst dich auf mich verlassen. Bei mir ist dein Geheimnis sicher.«
    »Und bei den Kühen«, hätte er sagen können, wenn es ihm so schnell eingefallen wäre.
     
    Jack hätte niemals, und hätte er sich noch solche Mühe gegeben, eine Rede halten können. Aber Jack hatte auch gedacht, er wäre nie imstande, die Briefe zu schreiben, die er fast ein Jahr später an Tom schreiben musste, ohne zu wissen, wo sie ihn erreichen würden (oder   – jetzt   – ob sie ihn erreicht hatten). Zum Tod von Michael Luxton. Zu dem es eine gerichtliche Untersuchung gegeben hatte. Wie schrieb man seinem Bruder von solchen Dingen? Aber nicht nur das. Auch davon, dass Michael ein Testament hinterlassen hatte, wie Farmer das tun, und in diesem Testament, nach der letzten Änderung, alles (was immer das jetzt umfasste) seinem erstgeborenen Sohn hinterlassen hatte. Keine Erwähnung des zweiten.
    »Alles deins, Jack.«
    Tom hatte diese Worte nie gesagt. Oder sie anders gesagt, nämlich dass dies die Abmachung zwischen ihnen sei   – wenn er ging und Jack blieb. Andererseits hatte Tomnie geantwortet und war auch nicht zur Beerdigung gekommen, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht waren es rein praktische, oder vielleicht   – Mangel an Mitgefühl. Zwei Briefe mussten an Tom geschrieben werden. Einer über den Tod und die gerichtliche Untersuchung. Und einer, um ihm das Ergebnis der Untersuchung (aber hatte es da je Zweifel gegeben?) und die Einzelheiten der Beerdigung mitzuteilen. Und des Testaments.
    Babbages in Barnstaple. November 1994.   Der Monat, könnte man sagen, für Beerdigungen. Und Ellie war bei ihm gewesen   – hatte ihm geholfen, hatte ihn durch alles gesteuert, war an seiner Seite gewesen. Tom nicht, was immer die Gründe waren, vielleicht rein militärische. Und kein Wort von ihm. Hatte das die Sache nicht geklärt? Sagte Tom damit nicht noch einmal das, was er nie klar geäußert hatte? Alles deins, Jack   – und von Herzen.
    Und Ellie hatte gesagt, mehr als einmal: »Vergiss ihn.«
    Tom war der Deserteur, der Verräter? Aber wenn, dann war auch Jack ein Verräter, weil er ihn gedeckt hatte. Oder Jack war in doppelter Hinsicht loyal. Tom gegenüber, indem er ihn nicht verraten hatte, und Dad   – oder der Farm   – gegenüber, indem er blieb.
     
    An einem späten Nachmittag im Dezember   – am Vorabend von Toms Geburtstag   – hatten Tom und Jack miteinander gesprochen, und sie wussten, dass dies der Moment für den Abschied war. Tom wollte um drei Uhr morgens aufbrechen (Michael stand manchmal um vier auf, auch im Dezember), und Jack wollte so tun, als hätte er, wie gewöhnlich, tief und fest geschlafen, bis die Geräusche seines Vaters ihn weckten.
    Auch diesmal waren sie im Melkstall und versicherten sich, dass sie außerhalb der Hörweite ihres Vaters waren. Jack bat Tom, ihm zu schreiben und mitzuteilen, wo er stationiert sei. Tom sagte, natürlich werde er das tun. Und das hatte er auch getan, indem er den Brief an Jack c/o der kleinen Poststelle in Polstowe geschickt hatte, die bald darauf geschlossen wurde (und wo ihre Mutter als Mädchen gearbeitet hatte), und ihm die Postanschrift gegeben, über die Jack ihn in Zukunft erreichen konnte. Doch das war das Einzige, was Jack von Tom je nach dessen Weggang hörte.
    Tom hatte gesagt, er würde in der Kleidung, die er anhatte   – mehrere Schichten, wegen der Kälte   –, gehen und ein paar zusätzliche Sachen in einem Rucksack mitnehmen. Schon bald wäre es die Aufgabe der Armee, für seine Kleidung und Nahrung und sein Obdach zu sorgen. Er würde bis zum Morgen laufen und dann den ersten Bus nach Exeter nehmen. Er hatte schon, als sie miteinander sprachen, in der großen Scheune auf der anderen Seite des Hofes ein Paket Brote und eine Thermoskanne versteckt. Es war die Menge an Verpflegung, die er auch dann mitnehmen würde, wenn er auf der anderen

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