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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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solchen Situationen eine beruhigende Wirkung haben konnte   – oder vielleicht sah er einfach aus wie einer, mit dem man sich nicht anlegen wollte. Wie ein Gangster, sogar, könnte man denken. Das wohl kaum abweisend wirkende Hotel hatte er wie eine Maus betreten.
    Er eignete sich eher dazu, Streit zu schlichten, als ihn vom Zaun zu brechen, eher Zorn zu besänftigen als ihm freien Lauf zu lassen. Doch jetzt fühlte er sich beinahe imstande, an die Bar zu gehen und mit der Faust auf die Theke zu schlagen, wie einer dieser verzweifelten und streitsüchtigen Männer. Er könnte die Medaille rausholen, seine geballte, drohend gereckte Faust öffnen. »Seht ihr das? Könnt ihr das sehen? Was ich hier habe?«
    Aus dem Nichts erschien ein Mädchen und brachte sein Steak und in eine Papierserviette eingewickeltes Besteck. Schwarzer Rock, weiße Bluse. Ihre Aufmerksamkeit, die nur einen Moment währte, leitete die Spannung aus ihm ab (etwas, das sie nie wissen würde). Sie sah ihn, als sie den Teller vor ihm absetzte, mit einem schnellen, direkten Lächeln an. Er wusste nicht, warum er das verdient hatte oder warum es gerade in dem Moment kam, als seine Gedanken überzukochen drohten. Sah er so aus, als müsste er besänftigt werden? Jetzt hatte er zweimal in den letzten zwei Stunden ein warmes weibliches Lächeln geschenkt bekommen. Sah er aus, als müsste er bemuttert werden?
    Er aß sein Steak mit Pommes frites und leerte sein zweites Bier. Bevor er ein drittes bestellte, ging er aufs Klo. Dazu musste er durch eine Hintertür zu einem Gang im Freien gehen, wo er dem Wetter ausgesetzt war. Der Streifen Luft war wie ein Messer. Der Ausschnitt des Himmels über ihm zeigte ein, zwei glitzernde Sterne. Heute Nacht gibt es Frost, dachte er wie ein Farmer, der über den Hof geht. Frost   – weiße Bestäubung auf den Hügeln in der Ferne, im Dartmoor. Halb elf in der Kirche von Marleston. Jetzt war es wirklich soweit. Babbages hatte gesagt: »Überlassen Sie das uns.« Das sagten Bestattungsunternehmer. Überlassen Sie das uns.
    Es roch nach Klohaus, und doch war es unverkennbar die Luft von Devon. Es war wie die Luft im Kuhstall. Er richtete den geräuschvollen Strahl auf das Stahlbecken. Als er wieder in die Bar kam, saß Tom auf seinem Platz   – hielt ihn für ihn frei, so schien es. Er stand auf und verschwand in dem Moment, als sein Bruder den Raum betrat. Jack ging an die Theke und bestellte einen doppelten Scotch. Keinen Nachtisch. Sein Bauch war gefüllt, und er hielt seine Chancen, ein zweites Mal mit einem Lächeln von dem Mädchen bedacht zu werden, für gering. Er wollte das erste nicht verderben. Das Bier tat seine Wirkung. Er trank den Scotch langsam   – war immer noch erstaunlich vertieft in den
Daily Express
– und ging dann. Es war kaum halb neun, aber was war noch zu tun? Auf der Jebb Farm waren sie im Winter manchmal um neun im Bett.
    Die Straßen waren leer und still, als gäbe es eine Ausgangssperre. Er ging ziellos, in der Kälte, um eine Ecke, um eine zweite, auf einer Straße, dann noch einer undzurück. Aber es war jetzt in Ordnung, befand er. Er dachte an nichts Besonderes. An das Lächeln des Mädchens. Boots the Chemist, Martin’s Newsagents, NatWest Bank. Er ging, ohne jedes Gefühl, beschattet oder begleitet zu werden, aber er fühlte sich jetzt selbst wie ein huschender Geist.
    Er fand zurück zum Globe Inn und hatte, als er das Haus betrat, den starken Wunsch, nicht bemerkt zu werden. An der Rezeption war niemand. Er kam zur Treppe. Vom Ende des Flurs, aus der Hotelbar, drang Stimmengemurmel, die Stimme des Kommentators bei einem Fußballspiel. Er schloss sein Zimmer auf und schaltete das Licht und das klickende Heizgerät an, aber die Heizung schien bereits an zu sein. Er war sich sicher, als er hereinkam, dass Tom auf seinem Bett gelegen hatte, die Füße in den Soldatenstiefeln gekreuzt, seinen Helm neben sich. Aber die Kuhle in der Bettdecke war seine eigene.
    Es war noch nicht neun Uhr. Er könnte Ellie anrufen. Er könnte endlich sein Mobiltelefon anschalten und nachsehen, ob sie ihm eine Nachricht geschickt hatte. Er könnte sie anrufen. Aber was sollte er sagen? Ich bin in Okehampton, Ellie. Tom ist auch hier.
    Ich bin in Okehampton, Ellie. Warum bist du nicht hier?
    Er zog die Überdecke ab, damit das Heizgerät die Laken wärmte. Es würde bestimmt Frost geben, diese Nacht. Er sah das abschüssige Barton Field. Aber er wollte an nichts denken. Er zog sich aus. Er legte die

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