Wärst du doch hier
Medaille auf den Nachttisch. Nachdem er sich hingelegt hatte, nahm er die Medaille – vielleicht aus seiner Bierlaune heraus – vom Nachttisch und legte sie unter das Kissen. Binnenweniger Minuten war er, zusammengerollt unter der Decke – alle Lichter ausgeschaltet, nur das Heizgerät für alle Fälle auf niedriger Stufe an –, so wie er es geplant und gewünscht hatte, ins Vergessen abgetaucht.
Aber irgendwann später – er hätte nicht sagen können, wie lange er geschlafen hatte – wurde er in der Dunkelheit wach, als hätte ein deutliches und alarmierendes Ereignis oder vielleicht ein schrecklicher und sofort wieder vergessener Traum ihn aus dem Schlaf geschreckt; sein Puls raste, sein Kopf dröhnte, seine Zähne mahlten wie Mühlsteine.
Und in der Hand hielt er eine Medaille umklammert.
26
Jack hatte guten Grund, sich an den letzten Remembrance Day zu erinnern.
November 1994. Nur er und Dad. Fast ein Jahr war vergangen, seit Tom verschwunden war – sein Name wurde nicht mehr erwähnt, und Jack wurde nicht mehr (nach Monaten) stellvertretend für die Abwesenheit seines Bruders bestraft. Es war wie eine etwas konfus geänderte Einschätzung, als würde sein Vater jetzt über Tom sagen, was er von einer nochmals überdachten Investition, von einem aufgegebenen Plan für die Farm hätte sagen können: Na, das haben wir ja richtig gemacht, Jack, mein Junge, dass wir
das
nicht weiterverfolgt haben. Als hätte Toms Weggang die Geschicke und die Aussichten der Jebb Farm belebt. Was eindeutig nicht der Fall war.
Aber der Jahrestag näherte sich, der Jahrestag von Toms Weggang, der noch dazu sein Geburtstag war. Und vorher kam Remembrance Day, der von der Familie Luxton traditionell sehr streng eingehalten wurde. Wie würden sie jetzt damit umgehen, jetzt, nachdem Tom losgezogen und Soldat geworden war?
Jack hatte es seinem Vater überlassen und wäre nicht verwundert gewesen, wenn Michael gesagt hätte (was allerdings das erste Mal in den Annalen ihrer Familie gewesenwäre): »Damit du es weißt, dieses Jahr gehen wir nicht.« Und dann ausgespuckt hätte.
Stattdessen hatte sein Vater gesagt: »Ich hoffe, du hast deinen Anzug für morgen bereit.« Und dann: »Die habe ich besorgt, als ich in Leke Cross war.« Und hatte ihm eine von zwei Poppys aus Papier mit grünen Plastikstängeln gegeben.
Allerdings war nichts davon mit sichtbarer Anteilnahme geschehen, was Jack so deutete, dass sein Vater vor der Dorfbevölkerung nicht das Gesicht verlieren wollte. Als Mitglieder der Familie Luxton durften sie ihre jährliche Pflicht nicht vernachlässigen. Dass Michael später wortlos, aber deutlich entschied, nicht zum traditionellen Drink ins Crown zu gehen – wo er natürlich in ein Gespräch über den Verbleib seines jüngeren Sohnes hätte verwickelt werden können –, schien dazu zu passen. Zu der Zeremonie würde er erscheinen, alles andere lehnte er ab.
Damals kam das Wort »Heuchelei« nicht in Jacks Wortschatz vor (auch heute ist es ihm eher fremd). In seinen Ohren klang es wie ein Begriff, den ein Tierarzt benutzen würde – auch so eine Krankheit, die Kühe bekommen konnten. Und was seinen Anzug betraf, so wusste er nicht, was er anderes damit tun sollte, als ihn vom Bügel zu nehmen, wo er das ganze Jahr gehangen hatte.
Aber Michaels Verhalten an jenem Remembrance Day war von großer Ernsthaftigkeit, ja, von einer seltsamen Gewissenhaftigkeit. An dem Morgen in der Küche hatte er sich besonders sorgfältig zurechtgemacht, hatte Hände und Gesicht gründlicher gebürstet und geschrubbt als je zuvor. Er befestigte die Poppy am Revers, nicht flüchtig,sondern so umsichtig, als wäre es eine echte Blume und er wollte zu einer Hochzeit gehen. Pflichtbewusst hatte er die Medaille hervorgeholt und sie ganz offen, wie ein Zauberer, der einen Zaubertrick vorführen wollte, in seine Brusttasche gesteckt, sodass Jack es mitbekam. Andererseits hatte er nach der Überprüfung von Jacks Aufzug – die sehr streng ausfiel und damit auch eher ungewöhnlich war – so seltsam ironisch gelächelt, als wollte er sagen: »Also, wenn das kein Witz ist.«
Draußen war die Luft rein und still und scharf, und der Himmel war von einem blitzenden Blau. Bis zehn Uhr war der Raureif auf den Feldern kaum getaut, und die Hügel rundum lagen weiß gepudert. Die Wälder hatten ihr Braun und Gelb behalten. Man hätte jedes regungslose, bronze-goldene Blatt an der Eiche auf dem Barton Field,
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