Wahn - Duma Key
über den Ellbogen war schlaff und wie abgestorben, im Scheinwerferlicht teigig blass, aber sie stand mit gespreizten Beinen und sicher da. Eine Brise voll nächtlicher Düfte wehte ihr Haar zurück, und ich war nicht im Geringsten überrascht, an ihrer rechten Kopfseite eine Vertiefung - eine sehr alte Narbe - zu sehen. Ihre Narbe hätte fast ein Zwilling meiner eigenen sein können.
Wireman kam um die offene Beifahrertür herum und blieb sekundenlang unschlüssig stehen. Ich glaube, er überlegte, ob er sich noch trösten lassen konnte, statt selbst Trost zu spenden. Dann bewegte er sich in einem bärenartigen, schlurfenden Trott mit gesenktem Kopf auf sie zu, sodass die langen Haare seine Ohren verbargen und seine Wangen streiften. Elizabeth schloss ihn in die Arme und zog seinen Kopf an ihren beträchtlichen Busen. Dabei schwankte sie einen Augenblick, sodass ich besorgt war, aber dann fing sie sich wieder, und ich sah, wie ihre knotigen, von Arthritis verkrümmten Hände seinen Rücken, der jetzt heftig bebte, zu reiben begannen.
Ihre Augen sahen mir entgegen, als ich etwas verunsichert auf die beiden zuging. Sie waren völlig klar. Dies war nicht die Frau, die gefragt hatte, wann der Zug komme, und darüber geklagt hatte, dass sie so beschissen konfus sei. Ihre Schalter standen sämtlich auf EIN. Zumindest vorläufig.
»Danke, wir kommen zurecht«, sagte sie. »Sie können heimfahren, Edgar.«
»Aber...«
»Wir kommen zurecht.« Ihre verkrümmten Finger rieben seinen Rücken. Rieben ihn unendlich zärtlich. »Wireman schiebt mich hinein. In ein, zwei Minuten. Nicht wahr, Wireman?«
Er nickte an ihrer Brust, ohne den Kopf zu heben oder einen Laut von sich zu geben.
Ich überlegte, dann beschloss ich, ihrem Wunsch zu entsprechen. »Also schön. Gute Nacht, Elizabeth. Gute Nacht, Wireman. Komm, Jack, wir fahren.«
Unter den Griffen der Gehhilfe befand sich ein Ablagefach. Jack legte die Taschenlampe hinein, warf einen Blick auf Wireman - der noch immer dastand und seinen Kopf am Busen der alten Frau verbarg - und ging zur offenen Beifahrertür meines Wagens. »Gut Nacht, Ma’am.«
»Gute Nacht, junger Mann. Sie sind ein ungeduldiger Parcheesi-Spieler, aber Sie haben Potenzial. Und, Edgar?« Sie betrachtete mich gelassen über Wiremans gesenkten Kopf, über seinen bebenden Rücken hinweg. »Das Wasser fließt jetzt rascher. Bald kommen Stromschnellen. Spüren Sie das?«
»Ja«, sagte ich. Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Ich wusste genau , wovon sie sprach.
»Bleiben Sie. Bitte bleiben Sie unbedingt auf der Insel. Wir brauchen Sie. Ich brauche Sie, und Duma Key braucht Sie. Denken Sie daran, dass ich das gesagt habe, wenn ich … wieder im Nebel versinke.«
»Das tue ich.«
»Suchen Sie Nan Meldas Picknickkorb. Er ist auf dem Dachboden, da bin ich ziemlich sicher. Er ist rot. Sie finden ihn bestimmt. Da sind sie drin.«
»Was denn, Elizabeth?«
Sie nickte. »Gute Nacht, Edward.«
Und das sagte mir auf einfache Weise, dass das Versinken aufs Neue begonnen hatte. Aber Wireman würde sie ins Haus bringen, dessen war ich mir sicher. Wireman würde sich um sie kümmern. Aber bis er das wieder konnte, würde Elizabeth für sie beide sorgen. Ich ließ sie auf dem Pflaster unter dem Torbogen stehend zurück: zwischen Gehwägelchen und Rollstuhl, sie mit um ihn gelegten Armen, er mit dem Kopf an ihrer Brust. Dieses Bild steht mir klar vor Augen.
Klar.
X Ich war von dem Stress des Autofahrens erschöpft - und auch davon, dass ich nach so langer Einsamkeit den Tag unter so vielen Leuten verbracht hatte -, aber die Vorstellung, ich könnte mich hinlegen oder gar schlafen, war undenkbar. Ich öffnete meine E-Mails und fand Nachrichten von meinen beiden Töchtern. Melinda hatte sich in Paris eine Halsentzündung zugezogen und nahm sie wie alle Krankheiten - persönlich. Ilse schickte mir einen Link zur Zeitung Citizen-Times in Asheville, North Carolina. Ich klickte ihn an und fand eine euphorische Besprechung des Konzerts der Hummingbirds, die in der First Baptist Church aufgetreten waren und die Gemeinde dazu gebracht hatten, halleluja zu rufen. Illustriert war der Jubelartikel mit einem Foto, auf dem Carson Jones und eine bildhübsche Blondine mit singend geöffneten Mündern und einander in die Augen blickend vor dem Chor standen. Carson Jones und Bridget Andreisson bei dem Duett »How Great Thou Art« lautete die Bildunterschrift. Hmmm. Mein If-So-Girl hatte geschrieben: »Ich
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