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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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konnte.
    Das war eine gute Nachricht - sogar eine aufregende Nachricht -, aber in gewisser Weise schien dies alles auf einem anderen Planeten, einem anderen Edgar Freemantle zu passieren. Ich speicherte die Nachricht, wollte mit der geklauten Röntgenaufnahme hinauf ins Little Pink und machte unterwegs halt. Das Little Pink war ungeeignet, weil die Staffelei ungeeignet war. Auch Leinwand und Ölfarben waren nicht geeignet. Nicht für diese Sache.
    Ich hinkte wieder hinunter in mein großes Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen ein Stapel Artisan-Blöcke und mehrere Schachteln Buntstifte, aber auch sie waren ungeeignet. Ein schwaches, vages Jucken hatte meinen fehlenden rechten Arm erfasst, und zum ersten Mal hielt ich es ernsthaft für möglich, dass ich es schaffen konnte … vorausgesetzt, ich fand das richtige Medium für die Message.
    Mir fiel ein, dass ein Medium auch jemand war, der Diktate aus dem Jenseits aufnahm, und darüber musste ich lachen. Es war ein leicht nervöses Lachen, das ist wahr.
    Ich ging ins Schlafzimmer, ohne schon zu wissen, worauf ich es abgesehen hatte. Dann sah ich den Kleiderschrank und wusste es plötzlich. Letzte Woche hatte ich mich von Jack zum Einkaufen fahren lassen - nicht zur Crossroads Mall, sondern zu einem der Herrenausstatter am St.Armand’s Circle - und mir ein paar Hemden gekauft. Klassisch geschnittene Oberhemden, die Ilse als kleines Mädchen Große-Leute-Hemden genannt hatte. Sie steckten noch in ihren Zellophanhüllen. Ich riss die Hüllen auf, zog die Stecknadeln heraus und warf die Hemden in einem Haufen auf den Boden des Kleiderschranks. Ich wollte nicht die Hemden. Ich wollte die Pappen, um die sie zusammengelegt waren.
    Diese leuchtend weißen Kartonrechtecke.
    In einem Fach der Tragetasche für mein PowerBook fand ich einen Sharpie-Markerstift. In meinem früheren Leben hatte ich Sharpies immer gehasst, weil ihre Tinte stark roch und sich anfangs leicht verwischen ließ. In diesem Leben hatte ich gelernt, die kraftvolle Deutlichkeit ihrer Striche zu lieben: Striche, die auf ihrer eigenen absoluten Realität zu bestehen schienen. Ich nahm die Kartoneinlagen, den Sharpie und die Röntgenaufnahme von Wiremans Gehirn mit hinaus in den Florida-Raum, wo das Licht so hell war wie auf einer Theaterbühne.
    Das Jucken in meinem fehlenden Arm wurde stärker. Unterdessen erschien es mir fast wie ein Freund.
    Ich hatte keinen dieser Lichtkästen, vor die Ärzte Röntgenaufnahmen und Tomogramme klemmen, die sie studieren wollen, aber die Fensterwand des Florida-Raums bildete einen durchaus annehmbaren Ersatz. Ich brauchte nicht einmal Klebeband. Ich konnte die Röntgenaufnahme in den Spalt zwischen dem Glas und dem verchromten Fensterrahmen klemmen und hatte es nun vor mir, dieses Ding, von dem viele behaupteten, es existiere nicht: das Gehirn eines Rechtsanwalts. Es schwebte vor dem Golf. Ich starrte es eine Zeit lang an, ich weiß nicht, wie lange - zwei Minuten? Vier? -, und war von der Art und Weise fasziniert, wie das blaue Wasser durch die grauen Hirnfurchen betrachtet aussah, wie diese Kerben das Wasser in Nebel verwandelten.
    Das Geschoss war ein schwarzer Span, leicht aufgespalten. Er sah wie ein kleines Schiff aus, das auf dem caldo schwamm. Wie ein Ruderboot.
    Ich begann zu zeichnen. Eigentlich hatte ich nur sein Gehirn in intaktem Zustand - ohne Geschoss - zeichnen wollen, aber daraus wurde letztlich doch mehr. Ich machte weiter und fügte das Wasser hinzu, wissen Sie, weil das Bild es zu erfordern schien. Oder mein fehlender Arm. Oder vielleicht waren die beiden identisch. Der Golf war nur angedeutet, aber er war da, und diese Andeutung genügte, weil ich wirklich ein talentierter Hundesohn war. Ich brauchte nur zwanzig Minuten, und als ich fertig war, hatte ich ein auf dem Golf von Mexiko schwimmendes menschliches Gehirn gezeichnet. Auf gewisse Weise war es obercool.
    Außerdem war es grausig. Das ist kein Wort, das ich im Zusammenhang mit meinen eigenen Arbeiten benutzen möchte, aber es ist unvermeidbar. Als ich das Röntgenbild abnahm und mit meinem Gemälde verglich - ein Geschoss in der Wissenschaft, kein Geschoss in der Kunst -, erkannte ich etwas, das ich vielleicht viel früher hätte sehen müssen. Jedenfalls nachdem ich die Serie Mädchen mit Schiff angefangen hatte.Was ich malte, wirkte nicht nur deshalb, weil es die Nervenenden reizte; es wirkte, weil die Leute wussten - auf irgendeiner Ebene wussten sie es tatsächlich -, dass sie hier etwas

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