Wahn - Duma Key
Strand entlanggingen. Der einzige Teil des Gedichts, an den ich mich deutlich erinnern konnte, war der, in dem der Zimmermann den Austern erklärte, nun sei es Zeit, sich auf den Heimweg zu machen - aber natürlich konnten die Austern nicht antworten, »denn sie war’n allesamt verzehrt«.
»Willst du’s jetzt hören?«, fragte Wireman.
»Hast du Zeit, es mir jetzt zu erzählen?«
»Klar. Annmarie hat Dienst bis sieben Uhr, obwohl wir uns die Arbeit tatsächlich meistens teilen. Wollen wir nicht ins Haus raufgehen? Ich habe eine Akte angelegt. Sie enthält nicht allzu viel, aber zumindest ein Foto, das sich anzusehen lohnt. Chris Shannington hatte es in einer Schachtel mit Sachen, die sein Vater hinterlassen hat. Ich bin mit ihm in die Casey Key Public Library gegangen und habe es fotokopiert.« Er machte eine Pause. »Es ist eine Aufnahme von Heron’s Roost.«
»Wie es damals ausgesehen hat, meinst du?«
Wir waren dabei, den Holzsteg hinauf zurückzuschlendern, aber Wireman blieb stehen. »Nein, amigo, du verstehst mich falsch. Ich spreche von dem ursprünglichen Heron’s Roost. Der Palacio ist das zweite Haus dieses Namens, das fast fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod der beiden kleinen Mädchen erbaut wurde. Aus John Eastlakes zehn oder zwanzig Millionen waren seither rund hundertfünfzig Millionen geworden. ›Krieg ist ein gutes Geschäft, investieren Sie Ihren Sohn.‹«
»Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, 1969«, sagte ich. »Oft im Tandem mit ›Eine Frau braucht einen Mann wie ein Fisch ein Fahrrad‹ gehört.«
»Gut, amigo «, sagte Wireman. Seine Handbewegung umfasste den wilden Dschungel, der knapp südlich von uns begann. »Die erste Villa Heron’s Roost hat dort draußen gestanden - damals, als die Welt noch jung war und unkonventionelle junge Mädchen poop-oopie-doop sagten.«
Ich dachte daran, wie Mary Ire, nicht nur beschwipst oder angeheitert, sondern regelrecht betrunken, gesagt hatte: Nur ein einziges Haus auf der kleinen Erhebung stehend und ganz im Stil der eleganten Landsitze erbaut, die man heute in Charleston oder Mobile besichtigen kann.
»Was ist damit passiert?«, fragte ich.
»Meines Wissens nichts außer Alter und Verfall«, sagte er. »Als John Eastlake die Suche nach den Leichen der Zwillinge aufgab, gab er auch Duma Key auf. Er hat den größten Teil des Personals entlassen, seine Siebensachen gepackt, seine drei verbliebenen Töchter mitgenommen, sich in seinen Rolls-Royce gesetzt - er hatte wirklich einen - und die Insel verlassen. Ein Roman, den F. Scott Fitzgerald nie geschrieben hat, das hat Chris Shannington gesagt. Er hat mir erzählt, Eastlake habe nirgends Frieden gefunden, bis Elizabeth ihn hierher zurückgebracht habe.«
»Glaubst du, dass das etwas ist, das Shannington wirklich weiß? Oder ist das bloß eine Geschichte, die er glaubt, weil er sie schon oft erzählt hat?«
»¿Quién sabe?«, sagte Wireman. Er blieb erneut stehen und nickte zum Südende von Duma Key hinüber. »Damals gab es noch keinen Dschungel. Das ursprüngliche Haus war vom Festland aus zu sehen - und umgekehrt. Und meines Wissens, amigo , steht es noch immer dort. Zumindest, was davon übrig ist. Es steht dort und verfällt.« Er erreichte den Hintereingang und sah mich an, ohne zu lächeln. » Das wäre ein Motiv für einen Maler, nicht wahr? Ein Geisterschiff an Land.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Vielleicht hast du recht.«
VIII Wireman ging mit mir in die Bibliothek mit der Ritterrüstung in einer Ecke und den museumswürdigen Waffen an einer Wand. Dort lag auf dem Schreibtisch neben dem Telefon eine Sammelmappe mit der Aufschrift JOHN EASTLAKE/HERON’S ROOST I. Er schlug sie auf und nahm das Foto einer Villa heraus, die dem Landhaus, in dem wir uns befanden, unverkennbar ähnelte - eine Familienähnlichkeit wie etwa unter Cousinen ersten Grades. Trotzdem gab es einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden, den die Ähnlichkeiten - die annähernd gleiche Baumasse, fand ich, und das gleiche Dach aus leuchtend orangeroten spanischen Ziegeln - nur unterstrichen.
Der jetzige Palacio versteckte sich vor der Welt hinter einer hohen Mauer mit einem einzigen Tor; hier gab es nicht einmal einen Lieferanteneingang. Er hatte einen aufwendig gestalteten Innenhof, den außer Wireman, der Pflegerin Annmarie und dem zweimal in der Woche kommenden Gärtner kaum jemand zu Gesicht bekam. So glich er dem unter einem sackartigen Gewand verborgenen Körper
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