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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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In meiner Hand fühlte er sich zu groß, zu dick an. Aber auch genau richtig. Ich begann zu zeichnen.
    Das konnte ich auf Duma Key am besten.
     
     
     
     
     
     
    III Ich skizzierte ein Kind in einem Hochstuhl mit Töpfchen in der Sitzfläche. Die Kleine trug einen Kopfverband. In einer Hand hielt sie ein Glas Wasser. Ihr anderer Arm war um den Hals ihres Vaters geschlungen. Er trug ein Unterhemd mit Trägern und hatte Rasierschaum auf den Wangen. Im Hintergrund, nur ein Schatten, stand die Haushälterin. Heute ohne Armreife, die sie nicht immer trug, aber mit einem turbanartig gebundenen Kopftuch, den Knoten vorn. Nan Melda, der einzige Mutterersatz, den Libbit je gekannt hatte.
    Libbit?
    Ja, so wurde sie genannt. So nannte sie sich selbst. Libbit, die kleine Libbit.
    »Die Kleinste von allen«, murmelte ich und blätterte meinen Skizzenblock um. Der Bleistift - zu kurz, zu dick, seit über einem Dreivierteljahrhundert unbenutzt - war das ideale Werkzeug, der perfekte Kanal . Er begann wieder übers Papier zu gleiten.
    Ich zeichnete die Kleine in einem Zimmer. Bücher erschienen an der Wand hinter ihr, verwandelten es in ein Arbeitszimmer. Daddys Arbeitszimmer. Sie trug weiter einen Kopfverband. Sie saß an einem Schreibtisch. Sie trug etwas, das wie ein kleiner Morgenrock aussah. Sie hielt einen (Bei-stiff)
    Bleistift in der Hand. Einen der Buntstifte? Vermutlich nicht - damals nicht, noch nicht -, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte ihr Ding gefunden, ihre Aufgabe, ihre Berufung. Und wie hungrig sie davon wurde! Wie heißhungrig!
    Sie denkt: Ich möchte bitte mehr Papier.
    Sie denkt: Ich bin ELIZABETH.
    »Sie hat sich buchstäblich in die Welt zurückgezeichnet«, sagte ich und bekam dann plötzlich eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß - denn hatte ich nicht das Gleiche getan? Hatte ich hier auf Duma Key nicht genau das Gleiche getan?
    Ich hatte noch viel Arbeit vor mir. Ich wusste, das hier würde eine lange, anstrengende Nacht werden, aber ich hatte das Gefühl, vor großen Entdeckungen zu stehen, und was ich empfand, war keine Angst - damals noch nicht -, sondern die Art Aufregung, die einen kupfrigen Geschmack im Mund erzeugt.
    Ich beugte mich nach vorn, hob Elizabeth’ dritte Zeichnung auf. Die vierte. Die fünfte. Die sechste. Ich bewegte mich schneller, immer schneller. Gelegentlich machte ich eine Pause, um zu zeichnen, aber meistens war das nicht nötig. Die Bilder entstanden in meinem Kopf, und weshalb ich sie nicht zu Papier bringen musste, erschien mir klar: Elizabeth hatte diese Arbeit schon vor langer Zeit getan, während sie sich von einem Unfall erholte, der sie beinahe das Leben gekostet hatte.
    In jener glücklichen Zeit, bevor Noveen zu sprechen begann.
     
     
     
     
     
    IV Bei meinem Interview hatte Mary Ire an einer Stelle gesagt, in mittleren Jahren zu entdecken, dass ich als Maler mit den besten mithalten konnte, müsse für mich so ähnlich gewesen sein, als hätte mir jemand die Schlüssel eines aufgemotzten Muscle-Car gegeben - eines Road-runner oder GTO. Ich hatte gesagt, ja, so ungefähr. Als Nächstes hatte sie es damit verglichen, plötzlich die Schlüssel zu einem vollständig eingerichteten Haus überreicht zu bekommen. Eigentlich zu einer Villa. Ich sagte, ja, auch das. Und wenn sie so weitergemacht hätte? Hätte sie mich gefragt, ob es war, als würde man unverhofft eine Million Microsoft-Aktien erben oder auf Lebenszeit zum Herrscher irgendeines ölreichen (aber friedlichen) Emirats im Nahen Osten gewählt werden? Ich hätte geantwortet: Ja, sicher, klar doch. Um sie zu beschwichtigen. Weil es in diesen Fragen um sie ging. Ich hatte die Sehnsucht in Marys Blick erkannt, während sie sie stellte. Es war der Blick eines Mädchens, das genau weiß, dass es seinem Traum, Trapezkünstlerin zu werden, nie näher kommen wird, als samstags in der Nachmittagsvorstellung auf einem der billigen Plätze zu sitzen. Sie war Kritikerin, und viele Kritiker, die nicht zu dem berufen sind, worüber sie schreiben, werden aus Enttäuschung eifersüchtig und gemein und kleinlich. Mary war nicht so. Mary liebte den Kunstbetrieb noch immer. Sie trank Whisky aus einem Wasserglas und wollte wissen, wie es war, wenn Tinkerbell aus dem Nichts angeflogen kam und einem auf die Schulter tippte, worauf man entdeckte, dass man - obwohl man die fünfzig schon überschritten hatte - plötzlich imstande war, am Mond vorbeizufliegen. Und obwohl es nicht so war, als bekäme man die Schlüssel eines

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