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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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führte. Dr. Kamen wusste wahrscheinlich, dass in solchen Zeiten die größten Umwälzungen intern stattfinden: bürgerliche Unruhen, Aufstände, Revolution und zuletzt Massenhinrichtungen, bei denen die Köpfe des alten Regimes in den Korb am Fuß der Guillotine rollen. Ich bin überzeugt, der große Mann hatte solche Revolutionen siegen und andere fehlschlagen gesehen. Weil nicht jeder den Übergang ins nächste Leben schafft, wissen Sie. Und auch die, denen er gelingt, entdecken nicht immer die goldene Küste des Paradieses.
    Mein neues Hobby half mir bei diesem Übergang, und Ilse half mir ebenfalls. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Aber ich schäme mich dafür, dass ich ihre Handtasche durchwühlt habe, als sie schlief. Ich kann nur sagen, dass ich damals das Gefühl hatte, es tun zu müssen.
     
     
     
     
     
     
    II Als ich am Morgen nach meiner Ankunft aufwachte, fühlte ich mich besser als jemals seit meinem Unfall - aber nicht so gut, dass ich meinen morgendlichen Schmerzmittelcocktail ausgelassen hätte. Ich nahm die Pillen mit Orangensaft ein und ging dann ins Freie. Es war sieben Uhr. In St. Paul hätte mir die eisige Luft förmlich in die Nasenspitze gezwickt, aber auf Duma war sie sanft wie ein Kuss.
    Ich lehnte meine Krücke an dieselbe Stelle wie am Abend zuvor und ging wieder zu den zahmen Wellen hinunter. Rechts versperrte mir mein eigenes Haus den Blick auf die Zugbrücke und Casey Key dahinter. Links jedoch …
    In dieser Richtung schien der Strand sich endlos weit zu erstrecken: ein blendend weißer Streifen zwischen dem blaugrauen Golf und dem Strandhafer. In weiter Entfernung konnte ich einen winzigen Punkt, vielleicht auch zwei sehen. Im Übrigen war dieser fabelhafte Bilderbuchstrand völlig menschenleer. Keines der anderen Häuser stand in Strandnähe, und wenn ich nach Süden blickte, sah ich nur ein einziges Dach: eine größtenteils von Palmen verdeckte, ungeheuer große Fläche aus orangeroten Ziegeln. Das war die Hazienda, die mir am Tag zuvor aufgefallen war. Ich konnte sie mit meiner Hand abdecken und mich wie Robinson Crusoe fühlen.
    Ich ging in diese Richtung, teils weil ich als Linkshänder dazu tendierte, mich nach links zu wenden, teils weil dort die Aussicht lockte. Und ich ging nicht weit, machte an diesem Tag noch keine Große Strandwanderung. Ich wollte die Krücke in erreichbarer Nähe haben, aber der Anfang war gemacht. Ich weiß noch, wie ich mich umdrehte und über meine Fußabdrücke im Sand hinter mir staunte. Alle linken Abdrücke waren wie ausgestanzt klar und deutlich. Die meisten rechten Abdrücke waren verwischt, weil ich dazu neigte, den Fuß leicht nachzuziehen, aber beim Aufbruch waren sogar sie deutlich gewesen. Auf dem Rückweg zählte ich meine Schritte. Insgesamt waren es achtunddreißig. Unterdessen pochte meine Hüfte schmerzhaft. Ich konnte es kaum erwarten, reinzugehen, mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank zu schnappen und zu sehen, ob der Kabelempfang so gut war, wie Jack Cantori behauptet hatte.
    Das war er tatsächlich.
     
     
     
     
     
     
    III Und das wurde meine Morgenroutine: Orangensaft, Spaziergang, Joghurt, Nachrichten. Mit Robin Meade, der jungen Frau, die von sechs bis zehn Uhr die Headline News moderierte, freundete ich mich richtig an. Eine langweilige Routine, finden Sie? Aber auch der Alltag eines Landes, das unter einer Diktatur schmachtet, kann langweilig wirken - Diktatoren mögen Langeweile, Diktatoren lieben Langeweile -, selbst während sich unter der Oberfläche große Umwälzungen anbahnen.
    Im verletzten Zustand ähneln Körper und Geist nicht nur einer Diktatur; sie sind eine Diktatur. Kein Tyrann ist so unbarmherzig wie Schmerzen, kein Despot so grausam wie geistige Verwirrung. Dass mein Geist ebenso schlimm gelitten hatte wie mein Körper, wurde mir erst klar, als ich allein war und keine anderen Stimmen mehr hörte. Dass ich meine Frau, mit der ich seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, zu erwürgen versucht hatte, nur weil sie mir den Schweiß von der Stirn hatte wischen wollen, nachdem ich sie aufgefordert hatte, das Zimmer zu verlassen, war noch das Allergeringste. Auch dass wir uns in den Monaten zwischen meinem Unfall und der Trennung kein einziges Mal geliebt, es nicht einmal versucht hatten, war nicht der Knackpunkt, obwohl ich fand, daraus ließen sich Rückschlüsse auf das größere Problem ziehen. Sogar meine unberechenbaren und deprimierenden Wutausbrüche waren nicht der entscheidende

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