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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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bezweifelte nicht, dass er es auf meine Augen abgesehen hatte. Dann röhrte die Desert Eagle, und das wütende blaue Starren des Vogels verschwand mit dem Rest seines Kopfes in einem dünnen Blutnebel. Er traf mich, leicht wie ein mit Draht umwickelter Hohlkörper, und blieb vor meinen Füßen liegen. Im selben Augenblick hörte ich in meinem Kopf einen hohen, silbernen Wutschrei.
    Aber nicht nur ich. Wireman fuhr zusammen. Jack ließ den Picknickkorb fallen und presste sich die Handballen an seine Ohren. Dann war der Schrei verstummt.
    »Ein toter Reiher«, sagte Wireman mit nicht ganz fester Stimme. Er stieß das Federbündel an, dann schob er es von meinen Stiefeln. »Erzählt das um Himmels willen nicht der Naturschutzbehörde. Einen Reiher zu schießen kostet bestimmt fünfzigtausend Dollar und fünf Jahre hinter Gittern.«
    »Woher hast du das gewusst?«, fragte ich.
    Er zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig? Du hast gesagt, ich soll ihn erschießen, wenn ich ihn sehe. Du Lone Ranger, ich Tonto.«
    »Aber du hattest die Pistole gezogen.«
    »Ich hatte, was Nan Melda ›eine Intuition‹ genannt hätte, als sie die Armreife ihrer Mama übergestreift hat«, sagte Wireman, ohne zu lächeln. »Irgendwer hält tatsächlich seine schützende Hand über uns, belassen wir’s dabei. Und nach dem, was mit deiner Tochter passiert ist, würde ich sagen, dass uns etwas Hilfe zusteht. Aber wir müssen unseren Teil leisten.«
    »Halt bloß dein Schießeisen bereit, während wir es tun«, sagte ich.
    »Oh, darauf kannst du dich verlassen.«
    »Und Jack? Kannst du rauskriegen, wie die Harpunenpistole geladen wird?«
    Es gab kein Problem. Bei Harpunenpistolen war das ein Kinderspiel.
     
     
     
     
     
     
    III Im Innern des Nebengebäudes war es dunkel, und das nicht nur, weil der Höhenrücken zwischen dem Golf und uns das direkte Licht der untergehenden Sonne abhielt. Der Himmel war noch ziemlich hell, und in dem Schieferdach gab es reichlich Risse und Spalten, aber die Ranken hatten alles überwuchert. Was von oben an Licht einfiel, war grün, verschwommen und unzuverlässig.
    Der Mittelbereich des Nebengebäudes war leer bis auf einen uralten Traktor, der ohne Räder auf den massiven Stummeln seiner Achsen stand, aber in einem der Geräteverschläge zeigte unsere starke Stablampe uns ein paar rostige Gartengeräte und eine an der Rückwand lehnende Holzleiter. Sie war schmutzig und deprimierend kurz. Jack versuchte hinaufzusteigen, während Wireman ihm leuchtete. Als er probeweise auf der zweiten Sprosse auf und ab hüpfte, hörten wir ein warnendes Knarren.
    »Lass das Herumgehopse, und stell sie ans Tor«, sagte ich. »Das ist eine Leiter, kein Trampolin.«
    »Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Florida hat nicht das ideale Klima für die Konservierung von Holzleitern.«
    »In der Not frisst der Teufel Fliegen«, sagte Wireman.
    Jack hob die Leiter hoch und verzog angeekelt das Gesicht wegen des Staubs und der toten Insekten, die von ihren sechs schmutzigen Sprossen rieselten. »Du hast gut reden. Du musst sie nicht benutzen, nicht mit deinem Gewicht.«
    »Ich bin der Scharfschütze der Gruppe, niño «, sagte Wireman. »Jeder hat seinen Job.« Das sollte lässig klingen, aber seine Stimme klang angespannt, und er sah müde aus. »Wo sind die restlichen Keramikfässchen, Edgar? Ich sehe sie nämlich nicht.«
    »Vielleicht weiter hinten«, sagte ich.
    Ich hatte richtig vermutet. Ganz hinten in dem Nebengebäude fanden wir etwa zehn Table-Whisky-Keramikfässchen. Ich sage etwa , weil das schwer abzuschätzen war. Sie waren alle zertrümmert.
     
     
     
     
     
     
    IV In der Umgebung der größeren Keramikscherben und mit ihnen vermischt lagen glitzernde Häufchen und fächerförmige Ansammlungen aus Glas. Rechts neben diesem Haufen lagen zwei altmodische hölzerne Schubkarren, beide umgekippt. Links davon lehnte ein Vorschlaghammer mit rostigem Hammerkopf und bemoostem Stiel an der Wand.
    »Hier hat jemand richtig Polterabend gemacht«, sagte Wireman. »Wer, glaubst du? Em?«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich.«
    Zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie uns letztlich doch besiegen würde. Uns blieb noch etwas Tageslicht, aber weniger, als ich erwartet hatte, und weit weniger, als mir lieb war. Und jetzt... worin sollten wir ihr Abbild aus Porzellan ertränken? In einer beschissenen Evian-Flasche? Eigentlich keine schlechte Idee - sie bestand aus Kunststoff, und die Umweltschützer behaupteten, die

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