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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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spielte das keine Rolle. Geht es um Dinge wie Bilder, ist jedes Urteil immer bloß eine Meinungsäußerung, nicht wahr? Ich wusste nur, dass irgendetwas um mich herum vorging. Auch in mir. Manchmal war es ein bisschen erschreckend. Aber die meiste Zeit fühlte es sich ziemlich wundervoll an.
    Ich zeichnete meistens oben im Little Pink. Von dort aus waren nur der Golf und die gerade Trennlinie zwischen Wasser und Himmel zu sehen, aber ich hatte eine Digitalkamera, mit der ich manchmal andere Dinge fotografierte, die ich ausdruckte, an meine Staffelei heftete (die ich so drehte, dass die starke Nachmittagssonne aufs Papier fiel) und dann zeichnete. Diese Schnappschüsse schienen weder Sinn noch Verstand zu haben, aber als ich Kamen das in einer E-Mail schrieb, antwortete er, das Unbewusste schreibe Poesie, wenn es in Ruhe gelassen werde.
    Vielleicht sí , vielleicht no .
    Ich zeichnete meinen Briefkasten. Ich zeichnete das Zeug, das in der Umgebung des Big Pink wuchs, dann ließ ich mir von Jack ein Buch besorgen - Common Plants of the Florida Coast -, damit ich meinen Bildern Namen geben konnte. Sie zu benennen schien zu helfen - schien ihre Wirkung irgendwie zu verstärken. Unterdessen war ich bei der zweiten Schachtel Buntstifte... und hielt eine dritte in Bereitschaft. Es gab Aloe vera; Seelavendel mit seinen Büscheln von winzigen gelben Blüten (jede mit einem winzigen Herzen in tiefstem Violett); Tintenbeere mit ihren langen spatenförmigen Blättern; und meine Favoritin Sophora, die Common Plants of the Florida Coast auch Halsketten-Busch nannte - wegen der winzigen schotenförmigen Halsketten, die auf ihren Zweigen wachsen.
    Ich zeichnete auch Muscheln. Natürlich tat ich das. Überall gab es Muscheln, eine unendliche Vielzahl von Muscheln innerhalb meines eingeschränkten Aktionsradius. Duma Key bestand aus Muscheln, und ich hatte schon bald Dutzende davon mitgebracht.
    Und fast jeden Abend, wenn die Sonne versank, zeichnete ich den Sonnenuntergang. Ich wusste, dass Sonnenuntergänge ein Klischee waren, und gerade deshalb hielt ich sie fest. Könnte ich diesen Wall des banal Alltäglichen ein einziges Mal durchbrechen, wäre das ein Fortschritt, sagte ich mir. So häufte ich eine Zeichnung nach der anderen an, aber keine gefiel mir besonders gut. Ich versuchte, Venusgelb wieder mit Venusorange zu überlagern, aber dabei kam nichts Rechtes heraus. Die düstere Hochofenglut stellte sich nicht wieder ein. Jeder Sonnenuntergang war nur ein gezeichnetes Stück Scheiße, dessen Farben sagten: Ich versuche dir zu erzählen, dass der Horizont in Flammen steht. In Sarasota oder Venice Beach hätte man an einem Samstag bestimmt in jeder Gehsteig-Kunstausstellung drei Dutzend bessere Sonnenuntergänge kaufen können. Einige dieser Zeichnungen hob ich auf, aber von den meisten war ich so enttäuscht, dass ich sie wegwarf.
    Als ich eines Abends nach weiteren Misserfolgen wieder einmal beobachtete, wie der obere Sonnenrand verschwand und diese glühenden Halloweenfarben zurückließ, dachte ich: Es war das Schiff. So hat meine erste Zeichnung einen magischen Touch bekommen. Weil die Sonnenstrahlen scheinbar durch das Schiff hindurchschienen. Schon möglich, aber diesmal war kein Schiff da, um den Horizont zu unterbrechen; er war eine gerade Linie, die tiefstes Dunkelblau und leuchtendes Orangegelb trennte, das zu zarten Grüntönen wurde, die ich sehen, aber nicht wiedergeben konnte, nicht mit meiner kümmerlichen Schachtel Buntstifte.
    Auf dem Fußboden um meine Staffelei herum waren zwanzig oder dreißig Ausdrucke verstreut. Mein Blick fiel auf eine Nahaufnahme einer Sophora-Halskette. Als ich sie betrachtete, begann mein rechter Phantomarm zu kribbeln. Ich nahm meinen gelben Farbstift zwischen die Zähne, bückte mich, hob das Sophorafoto auf und studierte es. Das Licht nahm jetzt ab, aber nur allmählich - dieser obere Raum, den ich Little Pink nannte, blieb lange hell -, und ich hatte mehr als genug, um die Einzelheiten bewundern zu können; meine Digitalkamera machte ausgezeichnete Nahaufnahmen.
    Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, klemmte ich das Foto an den Rand der Staffelei und fügte die Sophora-Halskette meinem Sonnenuntergang hinzu. Ich arbeitete rasch, skizzierte erst - eigentlich nur eine Reihe von Bogen, das ist die Sophora - und kolorierte dann: Schwarz mit Braun überlagert, dazwischen ein Klecks leuchtendes Gelb, die Überreste einer Blüte. Ich weiß noch, wie meine Konzentration auf eine gleißend

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