Wahn - Duma Key
Totenschädel denken, Tausende von ihnen, die alle gleichzeitig mit den Zähnen knirschten, wenn eine Welle heranbrandete.
Ich dachte daran, dass jemand - Jack? - gesagt hatte, irgendwo draußen in der Wildnis stehe ein weiteres zerfallendes Haus. Als Ilse und ich in diese Richtung zu fahren versucht hatten, hatte sich der Zustand der Straße sehr rasch verschlechtert. Der Zustand von Ilses Magen auch. Mein Magen hatte nicht rebelliert, aber der Gestank der üppig wuchernden Vegetation war widerlich gewesen und das Jucken in meinem fehlenden Arm noch schlimmer. Wireman hatte besorgt gewirkt, als ich ihm erzählt hatte, dass Ilse und ich die Straße ein Stück weit zu erkunden versucht hatten. Die Duma Key Road ist nichts für jemanden in deiner Verfassung, hatte er gesagt. Die Frage war nur: In welcher Verfassung war ich eigentlich?
Reba hielt sich weiterhin bedeckt.
»Ich will nicht, dass das passiert«, sagte ich leise.
Reba starrte nur zu mir auf. Ich war ein böser Mann, das war ihre Meinung.
»Wozu taugst du überhaupt?«, fragte ich und warf sie beiseite. Sie landete mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Kissen, wo sie mit hochgerecktem Po und gespreizten rosa Baumwollbeinen aussah wie eine richtige kleine Nutte. In der Tat: Aua, du böser Mann.
Ich ließ den Kopf hängen, starrte den Teppich zwischen meinen Knien an und rieb mir den Nacken. Die Muskeln dort waren straff und verspannt. Sie fühlten sich eisenhart an. Ich hatte schon länger keine schlimmen Kopfschmerzen mehr gehabt, aber wenn diese Muskeln nicht bald lockerer wurden, würde ich heute Abend dröhnende Kopfschmerzen haben. Ich musste etwas essen, das wäre zumindest ein Anfang. Irgendetwas Tröstliches. Eines dieser mit Kalorien vollgestopften Fertiggerichte klang ungefähr richtig - die Sorte, bei der man die Plastikhülle von dem tiefgekühlten Fleisch mit Soße schneidet, das Ganze sieben Minuten lang in der Mikrowelle erhitzt und es dann wie ein gieriges Arschloch verschlingt.
Aber ich blieb noch etwas länger still sitzen. Ich hatte viele Fragen, von denen die meisten vermutlich meine Fähigkeit überstiegen, sie zu beantworten. Das erkannte und akzeptierte ich. Seit dem Tag meiner unglücklichen Konfrontation mit dem Kran hatte ich gelernt, vieles zu akzeptieren. Aber ich würde versuchen müssen, wenigstens noch eine Antwort zu bekommen, bevor ich mich trotz meines Heißhungers dazu überwinden konnte, etwas zu essen. Das weiße Telefon auf dem Nachttisch gehörte zum Inventar des Hauses. Es war reizend altmodisch, das Modell Princess mit Wählscheibe. Es stand auf einem Telefonbuch, das überwiegend aus Gelben Seiten bestand. Ich schlug den dünnen weißen Teil auf, rechnete eigentlich damit, dass Elizabeth Eastlake nicht drinstehen würde, und fand den Namen dann doch. Ich wählte die Nummer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich Wireman.
»Hallo, Heron’s Roost.«
In dieser perfekt modulierten Stimme lag kaum eine Spur des Mannes, der so hemmungslos gelacht hatte, dass sein Liegestuhl in Trümmer gegangen war, und plötzlich kam mir das hier wie die schlechteste Idee der Welt vor, aber mir blieb keine andere Wahl.
»Wireman? Hier ist Edgar Freemantle. Ich brauche Hilfe.«
6
Die Dame des Hauses
I Am folgenden Nachmittag saß ich erneut an dem Tischchen am Ende des vom Palacio de Asesinos herabführenden Holzstegs. Der gestreifte Sonnenschirm war zwar eingerissen, aber noch brauchbar. Vom Wasser her wehte eine Brise, die kühl genug war, um Sweatshirts zu rechtfertigen. Kleine Lichtflecken tanzten über den Tisch, während ich erzählte. Und ich erzählte ausführlich - fast eine Stunde lang, in der ich mich mit kleinen Schlucken von dem grünen Tee erfrischte, den Wireman mir immer wieder nachschenkte. Schließlich verstummte ich, und für kurze Zeit war nichts zu hören außer dem sanften Flüstern der hereinkommenden Wellen, die sich am Strand brachen und verliefen.
Am Abend zuvor musste Wireman in meiner Stimme genug Besorgniserregendes gehört haben, denn er hatte angeboten, sofort mit dem Palacio -Golfwagen herüberzukommen. Mit Miss Eastlake könne er per Walkie-Talkie in Verbindung bleiben. Ich erklärte ihm, dass es so eilig nicht war. Es sei wichtig, sagte ich, aber nicht dringend. Zumindest nicht dringend im Sinne eines Notrufs. Und das war die Wahrheit. Falls Tom vorhatte, auf seiner Kreuzfahrt Selbstmord zu begehen, konnte ich nur sehr wenig tun, um ihn daran zu hindern. Aber ich glaubte nicht, dass er sich das
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