Wahn - Duma Key
Leben nehmen würde, solange er mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammen war.
Ich hatte nicht die Absicht, Wireman zu erzählen, dass ich heimlich die Umhängetasche meiner Tochter durchwühlt hatte; das war etwas, wofür ich mich mit der Zeit nicht weniger, sondern immer mehr schämte. Aber sobald ich mit dem LINK-BELT angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte fast alles und hörte erst mit Tom Riley auf, der im Little Pink oben an der Treppe stand: bleich und tot und mit einem Auge weniger. Ich glaube, teilweise konnte ich nur deswegen weiterreden, weil ich wusste, dass Wireman keine Handhabe hatte, mich in die nächste Irrenanstalt einweisen zu lassen - er war nicht mein Vormund. Sosehr mich seine Freundlichkeit und zynische Heiterkeit anzogen, außerdem kam hinzu, dass er noch ein Fremder war. Manchmal - sogar ziemlich oft, schätze ich - fällt es uns leichter, peinliche oder regelrecht verrückte Geschichten einem Unbekannten zu erzählen. Vor allem beflügelte mich jedoch reine Erleichterung: Ich kam mir vor wie ein Mann, der Schlangengift aus einer Bisswunde drückt.
Wireman schenkte sich Tee mit einer Hand nach, die nicht ganz ruhig war. Das fand ich interessant und beunruhigend. Dann sah er auf seine Armbanduhr, die er im Krankenschwesternstil mit dem Zifferblatt nach unten trug. »In ungefähr einer halben Stunde muss ich wirklich raufgehen und nach ihr sehen«, sagte er. »Ihr fehlt bestimmt nichts, aber...«
»Was ist, wenn sie doch etwas hat?«, fragte ich. »Wenn sie vielleicht gestürzt ist?«
Er zog ein Handfunkgerät aus der Tasche seiner Chinos. Es war schlank wie ein Handy. »Ich achte darauf, dass sie ihres immer bei sich hat. Außerdem sind im ganzen Haus Notrufknöpfe verteilt, trotzdem …« Er tippte sich mit einem Daumen an die Brust. »Ich bin das eigentliche Alarmsystem, okay? Das einzige, dem ich vertraue.« Er machte eine Pause, blickte übers Wasser hinaus und seufzte.
»Sie hat Alzheimer. Er ist noch nicht sehr weit fortgeschritten, aber Dr. Hadlock sagt, dass er sich bald beschleunigen wird. Heute in einem Jahr …« Er zuckte beinahe mürrisch mit den Schultern, dann hellte seine Miene sich wieder auf. »Jeden Nachmittag um vier trinken wir Tee. Es gibt Tee und Oprah . Warum kommst du nicht mit rauf und lernst die Dame des Hauses kennen? Ich lege auch noch ein Stück Limonenkuchen drauf.«
»Okay, abgemacht«, sagte ich. »Glaubst du, dass sie die Mitteilung auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hat, Duma Key sei kein Ort, der Töchtern Glück gebracht habe?«
»Klar. Wenn du jedoch eine Erklärung erwartest - oder auch nur, dass sie sich daran erinnert -, wünsche ich dir viel Glück. Aber ich kann dir vielleicht ein bisschen weiterhelfen. Du hast gestern was von Brüdern und Schwestern gesagt, und ich hatte keine Gelegenheit, dich zu verbessern. Tatsache ist, dass Elizabeth nur Schwestern hatte. Fünf Mädchen. Die Älteste wurde im Jahr 1908 oder so ähnlich geboren. Elizabeth hat die Bühne im Jahr 1923 betreten. Mrs. Eastlake ist zwei Monate nach ihrer Geburt gestorben. An irgendeiner Infektion. Oder vielleicht an einer Thrombose... wer könnte das jetzt noch sagen? Das war hier auf Duma Key.«
»Hat ihr Vater wieder geheiratet?« Ich konnte mich noch immer nicht an seinen Namen erinnern.
Wireman erlöste mich aus meiner Verlegenheit. »John? Nein.«
»Erzähl mir bloß nicht, dass er hier sechs Mädchen großgezogen hat. Das ist mir zu romanhaft.«
»Er hat’s versucht, mithilfe eines Kindermädchens. Aber seine Älteste ist mit einem Jungen durchgebrannt. Miss Eastlake hatte einen beinahe tödlichen Unfall. Und die Zwillinge …« Er schüttelte den Kopf. »Sie waren zwei Jahre älter als Elizabeth. 1927 sind sie verschwunden. Damals wurde vermutet, dass sie beim Baden von einer Unterströmung mitgerissen wurden und draußen im caldo largo ertrunken sind.«
Wir blickten eine Zeit lang aufs Wasser hinaus - auf diese täuschend harmlosen Wellen, die wie junge Hunde den Strand heraufgelaufen kamen - und sagten nichts. Dann fragte ich, ob Elizabeth ihm das alles erzählt habe.
»Teilweise. Nicht alles. Und ihre Erinnerungen sind nicht immer zuverlässig. Auf einer Webseite zur Geschichte der Golfküste habe ich eine flüchtige Erwähnung zu einem darauf passenden Vorfall gefunden. Ich hab eine kleine E-Mail-Korrespondenz mit einem Kerl geführt, der Bibliothekar in Tampa ist.« Wireman hob die Hände und imitierte eine Tippbewegung.
Weitere Kostenlose Bücher